Mit Verwundungen leben

von Redaktion

Zwischen Himmel und Erde

Eine gut verheilte Narbe sei alles, was ihn noch an die schwere Herzoperation erinnere, erzählt mir ein Mann, den ich nach erfolgter Genesung wieder treffe. Mit dieser Narbe könne er aber gut leben. Viele tragen unterschiedliche Narben an ihrem Körper. Sie sind die Folge von kleinen und größeren Platzwunden, Kaiserschnitten und anderen Operationen und erzählen Geschichten aus unserer Biografie. Anders ist es mit den seelischen Narben, die wir im Lauf unseres Lebens durch Lieblosigkeit oder Zurückweisung erleiden. Niemand in unserer Umgebung kann sie sehen, bis sie möglicherweise irgendwann durch unser Verhalten ein überraschendes Ventil finden. Vor Kurzem habe ich auf der Straße miterlebt, wie ein Vater seinen Sohn heruntergekanzelt hat mit Worten, die selbst mir als Unbeteiligte beim Vorbeigehen ins Herz schneiden. Der Vorfall geht mir immer noch nach und ich frage mich, was diese Ausdrücke mit einer Kinderseele machen. Viele Menschen berichten im Seelsorgegespräch von einzelnen Sätzen, die irgendwann einmal gefallen sind und von Verletzungen, die nie ganz verheilt sind. Sie liegen wie Narben auf unserer Seele. In der Osterzeit habe ich viele Darstellungen des Auferstandenen in unterschiedlichen Kirchen gesehen. Immer fällt mein Blick auf die sichtbar gebliebenen Wundmale der Kreuzigung. Sie sind mit der Auferstehung nicht einfach verschwunden. Im „Lied vom Gottesknecht“ heißt es in der Bibel: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Mich berührt das sehr, denn es ermutigt uns, die Verwundungen unseres Lebens nicht zu verdrängen, sondern sie anzunehmen und sie als Teil unserer Lebensgeschichte zu verstehen. Es ist der erste Schritt zur Heilung und wir gehen diesen Weg nicht allein.

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