Essstörungen durch Soziale Medien verstärkt

von Redaktion

Interview Expertin Carolin Martinovic sieht auch Männer betroffen – Probleme oft unerkannt

Rosenheim – Sobald man sein Smartphone in die Hand nimmt und Instagram öffnet, wird man überflutet von perfekten Gesichtern, durchtrainierten Körpern und scheinbar makellosen Menschen. Dass die Realität wohl ganz anders aussieht, blendet man schnell aus – und das hat Folgen: Die Zahl der jungen Mädchen (zwölf bis 17 Jahre) mit Essstörungen ist von 2019 bis 2023 um 50 Prozent gestiegen. Warum die Zahlen trotz Trends wie „Body Positivity“ – also der positiven Einstellung zu allen Körpern, unabhängig von Größe, Form, Hautfarbe oder Geschlecht – zunehmen und wie Freunde und Familie helfen können, erklärt Carolin Martinovic, Leiterin der Beratungsstellen beim Therapienetz Essstörung, im OVB-Gespräch.

Die Zahlen zeigen, dass besonders junge Frauen immer häufiger von Essstörungen betroffen sind. Was zeigen Ihre Erfahrungen?

Ja, das spiegelt sich auch darin wider, dass wir vermehrt Anfragen in unseren Wohngruppen haben. Da liegt der Schwerpunkt in etwa bei den zwölf- bis 20-jährigen Frauen. Die Range in unserer Beratungsstelle geht aber bis etwa 60 Jahre. Es ist also eine breite Palette an Betroffenen.

Sind hauptsächlich Frauen betroffen? Beim Thema Essstörungen stehen selten Männer im Fokus.

Ich denke, dass wir da eine viel größere Dunkelziffer haben als bisher vermutet. Es hat sich zwar schon ein bisschen was getan bei den Jungs. Wir kriegen aber auch oft die Rückmeldung von Jungs und Männern, dass sie bei mehreren Ärzten durchgecheckt wurden und es lange gedauert hat, bis jemand überhaupt auf die Idee gekommen ist, dass es sich um eine Essstörung handeln könnte.

Wahrscheinlich sind auch die Hemmungen größer, sich Hilfe zu holen.

Bei Jungs und Männern ist die Scham riesengroß, da viele Essstörungen als Frauenkrankheiten abstempeln. Zudem besteht immer noch dieses Männlichkeitsbild von „Ich schaffe alles alleine.“ Mädchen und Frauen sind in der Hinsicht mehr betroffen, weil für sie Aussehen noch eine größere Rolle spielt. Schon von klein auf macht es bei Mädchen einen Unterschied, wie viel sie wiegen und wie sie aussehen. Da haben wir auf jeden Fall eine Schräglage.

Wenn man von Essstörungen spricht, denken die meisten an Magersucht. Aber das Spektrum ist doch viel breiter?

In erster Linie sehen wir Magersucht, also Betroffene, die immer weniger oder gar nichts essen und dann ins Untergewicht geraten. Es gibt aber auch Betroffene mit Essattacken, die unkontrolliert sehr große Mengen essen und dann gegensteuernde Maßnahmen wie Erbrechen, Sport, Abführmittel oder Hungern ergreifen. Wir haben aber natürlich auch Binge-Eating-Betroffene, Menschen mit Adipositas, die ja auch aufgrund einer Essstörung entsteht. Und wir haben Patienten mit der sogenannten ARFID-Störung.

Was ist das?

Das steht für „Avoidant and Restrictive Food Intake Disorder“. Diese Störung war früher mehr bei Kindern angesiedelt. Also wenn ein Kind nur noch ein bestimmtes Gericht wie zum Beispiel Spaghetti mit Tomatensoße essen wollte. Diese Problematik kann aber tatsächlich auch bei Erwachsenen vorkommen.

Dass immer mehr Menschen von Magersucht betroffen sind, ist aber auch überraschend. Haben Trends wie „Body-Positivity“ keine Auswirkungen auf die Menschen?

Nein, das ist etwas, was künstlich gehypt ist. Diese Body Positivity hat sich in dem Sinne nie durchgesetzt. Gut, sie hat bewirkt, dass in der Gesellschaft und in den Medien anders diskutiert wird und ein gewisser Gegenpart entstanden ist. Aber wir hier in der Beratungsstelle sehen keine Veränderung.

Bei dem TV-Format „Germany’s Next Topmodel“ sind nun auch Curvy Models erwünscht. Ist Heidi Klum also nur mit dem Trend gegangen?

Frau Klum stand irgendwann einfach unter Zugzwang. Sie wurde massiv kritisiert, und Studien haben belegt, dass ebensolche Formate zu Essstörungen wie Magersucht und Bulimie beitragen. Das war ein geschickter Schachzug. Die, die schon immer ein gutes Körperbewusstsein hatten, haben den „Body Positivity Trend“ gefeiert. Die, die aber unsicher sind, werden sich von solchen Bildern leider nicht ansprechen lassen.

Welche Rolle spielen die Sozialen Medien beim Körperbild junger Menschen?

Wenn eine Essstörung entsteht, kommen immer mehrere Faktoren zusammen. Unter anderem genetische Veranlagungen, das individuelle Selbstwertgefühl, aber auch aktuelle Konflikte wie Kriege oder die Klimakatastrophe, die ein Gefühl der Ohnmacht und Angst hervorrufen können. Da ist eine Essstörung einfach der Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen. Hinzu kommen dann auch noch Soziale Medien.

Inzwischen besteht ja auch eine Art Druck, sich selbst im Internet zu präsentieren …

Ja, es ist ein Druck im Sinne von „Ich muss präsent sein, sonst existiere ich nicht.“ Hinzu kommt, dass es ja meist keine realen Bilder sind, die man dort sieht. Die sind ja bearbeitet. Das wissen die jungen Mädchen zwar, aber trotzdem eifern sie diesem unrealistischen Ideal hinterher.

Als Freund oder Familienmitglied von Betroffenen fühlt man sich häufig hilflos. Was kann man dennoch tun, ohne dem Betroffenen zu nahe zu treten?

Da muss man unterscheiden. Bei Minderjährigen tragen natürlich die Eltern die Verantwortung, zu reagieren. Für Freunde und Arbeitskollegen ist es dann noch mal schwieriger. Das Wichtigste ist aber immer, es anzusprechen. Wenn man den Verdacht hat, sollte man es auch ansprechen. Und da ist es wichtig, keine Vorwürfe zu machen. Man sollte Verständnis, aber auch Sorge äußern.

Und wenn das nicht funktioniert?

Natürlich kann es passieren, dass der oder die Betroffene sagt „Lass mich in Ruhe, alles ist fein.“ Dann sollten Angehörige, Freundinnen oder Freunde, Eltern oder andere Bezugspersonen Rat und Unterstützung bei Fachkräften wie zum Beispiel den Kolleginnen in unseren Beratungsstellen suchen. Das Wichtigste ist einfach, es nicht zu ignorieren und die eigenen Sorgen zu schildern. Betroffene schildern uns immer wieder, dass es sie natürlich nicht gefreut hat, wenn sie darauf angesprochen wurden. Sie haben sich ertappt gefühlt. Dennoch fanden sie es schön, zu sehen, dass sich jemand um sie sorgt.
Interview: Patricia Huber

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