Mühltal noch immer verwundet

von Redaktion

Die Flut hat die Gemeinde Nußdorf im Juni 2024 extrem getroffen. Während der Ort durch den Umbau des Wildbaches geschützt war, hat der Steinbach an seinem Oberlauf gewütet. Wie lange es dauern wird, ehe die Straße zum Samerberg wieder steht, ist ungewiss.

Nußdorf – Ein Jahr nach der verheerenden Flutkatastrophe sind die Spuren in der Gemeinde Nußdorf am Inn noch immer zu sehen. Innerhalb von fünf Tagen – vom 30. Mai bis zum späten Abend des 3. Juni 2024 – wurden durchschnittliche Niederschlagsmengen von etwa 200 Millimetern verzeichnet. „Im Zentrum dieser Extremniederschlagszelle entsprachen die Wassermengen in den Wildbächen etwa denen eines hundertjährlichen Hochwassers, mancherorts – wie am Steinbach in der Gemeinde Nußdorf – sogar einem extremeren Hochwasser, das seltener als alle 100 Jahre eintritt“, bilanziert Dr. Tobias Hafner, Leiter des Wasserwirtschaftsamtes Rosenheim, die Katastrophe.

Verheerende Gewalt
des Steinbachs

Die Böden, bereits gesättigt durch vorangegangene Regenfälle, konnten kein Wasser mehr aufnehmen. Die Wassermassen flossen oberirdisch ab und füllten die Wildbäche. Steinbach, Entbach, Wimmergraben und Breitner Bach brachten aus einem etwa 30 Quadratkilometer großen Einzugsgebiet von Samerberg und Hochries eine noch nie dagewesene Flut ins Tal. Verheerend war vor allem die Gewalt des Steinbachs. Er donnerte mit einer unvorstellbaren Kraft ins Tal, stieg weit über die Ufer, unterspülte Straßen, riss Verbauungen mit sich und verursachte Hangrutschen.

Am schlimmsten traf es das Mühltal am Oberlauf des Steinbachs. In der etwa zwei Kilometer langen Schlucht wurde die Gemeindeverbindungsstraße zwischen Nußdorf und Samerberg so stark zerstört, dass sie noch jahrelang gesperrt bleiben muss. Der Steinbach, der hier in einem vier bis acht Meter tiefen Einschnitt fließt, stieg so stark an, dass er sogar die Straße überschwemmte. Er spülte Uferböschungen aus, schürfte den Unterbau der Straße weg, riss ganze Hangflanken mit sich. Die Straße brach an mehreren Stellen komplett ab.

Gegen 18 Uhr kam am 3. Juni das letzte Signal vom Messpegel am Steinbach: 80 Kubikmeter pro Sekunde donnerten ins Tal. Danach riss die Flut den Steg und das Messpegelhaus mit sich. Wenige Meter entfernt sind von der Straße nur wenige Zentimeter übrig geblieben. Der Hang ist nachgerutscht. Die Natur breitet sich aus. Ein Nadelbaum steht aufrecht dort, wo einst die Straße war. „Unser Referenzbaum. Er zeigt uns, dass es keine weiteren Hangbewegungen gab“, sagt Josef Hamberger, Projektleiter für den Steinbach am Wasserwirtschaftsamt (WWA) Rosenheim.

Auch am Unterlauf des Steinbachs kurz vor der Ortschaft sind die Verwüstungen noch immer sichtbar, aber nicht so gravierend wie am Oberlauf. Auch hier sind Böschungen und Straßen unterspült und abgebrochen. Der Wildholzrechen zur Geschieberückhaltung war voll. „Das Bauwerk hat die Siedlungen geschützt, war aber überlastet“, erklärt Hamberger. Das Wasser bahnte sich seinen Weg durch den angrenzenden Wald und schürfte ein neues Bachbett aus. Ein Jahr später erinnert eine vom Bach umspielte Insel noch daran, dass hier noch vor Kurzem noch so starke Kräfte walteten, dass sie einen Teil des Waldes mit sich rissen.

Die Juni-Flut hat tiefe Wunden ins Mühltal gerissen. „Und das Hochwasser im September hat sie noch einmal verdoppelt“, macht Hamberger klar. Die Schäden werden auf mehr als zehn Millionen Euro geschätzt. Es wird Jahre dauern, ehe sie behoben sind.

Unmittelbar nach der Juni-Flut setzte das Wasserwirtschaftsamt Drohnen ein, um die Schäden aufzunehmen und baute Ersatzstraßen, um überhaupt ins Katastrophengebiet vordringen zu können. Der Wildholzrechen und verlandete Bachläufe wurden geräumt, erodierte Böschungen im direkten Zufahrtsbereich zum Rechen gesichert. Priorität hatte der Weiler am Mühltalweg. Er wurde vom oberen Bereich aus wieder zugänglich gemacht, damit die Bewohner nicht mehr von der Außenwelt abgeschnitten waren.

Im Februar starteten die Planungen für die komplexe Wildbachverbauung im Mühltal. Ufer, Bachbett und das umliegende Gelände wurden in Zusammenarbeit mit dem Amt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung (ADBV) Rosenheim vermessen, um ein genaues 3D-Modell zur erhalten. „Die Wiederherstellung der Infrastruktur wird Jahre dauern“, schätzt Projektleiter Hamberger. Im Herbst sollen die Planungen fertig sein und den Bürgern auf einer Informationsveranstaltung vorgestellt werden.

Weiter stromabwärts haben die Hochwasserschutzmaßnahmen den Ort vor einer großen Überflutung geschützt. Seit 2021 wird der Steinbach in Nußdorf umgebaut – von der Brücke am Inn bis in die Ortschaft hinein. Inzwischen sind die Arbeiten schon bis zum dritten Bauabschnitt vom Seilenauweg bis zum Wildbarrenweg vorangeschritten.

„Der Steinbach wurde aus seinem engen, trapezförmigen Korsett mit niedrigen Deichen befreit“, beschreibt Projektleiter Josef Hamberger. Die Sohlbreite des Wildbaches wurde von acht auf zwölf bis 14 Meter vergrößert, der Bachlauf ökologisch gestaltet, die Sohlabstürze in fischdurchgängige und strukturreiche Sohlrampen umgebaut. Die Böschungen wurden mit Wasserbausteinen stabilisiert, die Deiche vom Bach abgerückt und mit einer ökologischen Saatmischung in blühende Wiesen verwandelt.

Wer heute auf der Deichkrone spazieren geht oder radelt, erahnt nicht, dass hier vor vier Jahren noch eine Baustelle war. Die Natur hat sich – unterstützt von Aufforstungen – die Flächen zurückerobert. Habitat-Bäume und Totholz sind erhalten geblieben, neue Wurzelstücke und Steinhaufen am Waldrand sowie Nistkästen hinzugekommen. Die Flusslandschaft bietet nicht nur einen Lebensraum für Zauneidechse, Haselmaus und Wasseramsel. Sie hat nach der Umgestaltung auch einen hohen Freizeitwert.

Weiter oben, im dritten Bauabschnitt, werden die Arbeiten noch bis Ende des Jahres dauern. Auch hier mussten Bäume weichen, um Baufreiheit zu schaffen. „Die Eingriffe werden aufs Minimum reduziert und durch Neupflanzungen kompensiert. Alte, prägnante Bäume sind erhalten geblieben“, betont Hamberger.

Auf künstlichen Rampen bahnen sich die Bagger ihren Weg ins Bachbett, stabilisieren die Sohle mit Querbauwerken, sichern die Böschungen mit Wasserbausteinen. „Es sind erfahrene Maschinisten, die das Gespür und Know-how haben, um Uferböschungen mit Wasserbausteinen zu stabilisieren“, würdigt Dr. Tobias Hafner die Experten, die dem Wasserwirtschaftsamt seit Juni 2024 unermüdlich zur Seite stehen.

Von der Brücke an der Hauptstraße in Nußdorf kann man Vigil Neureither aus Bruckmühl bei der Arbeit zusehen. Mit dem Greifer hebt er tonnenschwere Wasserbausteine an, schätzt mit erfahrenem Blick ein, wie sie verzahnt ineinandergreifen können, füllt Lücken mit kleineren Steinen auf und errichtet scheinbar spielend leicht eine tonnenschwere Stützmauer. Sie muss der Wucht eines Hochwassers standhalten, die im alpinen Bereich durch Schleppkräfte und Abflussdynamik besonders hoch ist.

Bauwerke
halten Stand

Die Planungen für den Hochwasserschutz am Unterlauf des Steinbachs haben 2013 begonnen. 2019 wurden sie genehmigt. 2021 begannen die Bauarbeiten. 2024 haben sie den Ort geschützt. „Dort, wo Hochwasserschutzmaßnahmen bereits umgesetzt wurden, haben die Bauwerke den extremen Wassermassen eines mehr als hundertjährlichen Hochwassers standgehalten“, betont Hamberger. „Auch wenn das Bachbett randvoll war: Ohne diese Maßnahmen wäre Nußdorf überschwemmt worden.“

Artikel 5 von 9