Traunstein – Gegen Freitagmittag 12.30 Uhr verkündete das Landgericht Traunstein eine große Überraschung: Der Haftbefehl gegen Sebastian T. ist aufgehoben, der Gefangene wird entlassen. Das teilte das Gericht auf Anfrage mit.
Die sensationelle Wendung machte ein Gutachten möglich. Ein Gutachten, das Dr. Yves Georg, Starverteidiger aus Hamburg, schon zuvor euphorisch gestimmt hatte. „Ein wunderbares Gutachten“, sagte er dem OVB, „durch und durch positiv für unseren Mandanten.“
Beobachtungen
auf 42 Seiten
Die Lektüre, die Georg so viel Genugtuung verschaffte, war am gestrigen Freitag um 7.30 Uhr im beA, dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach, angekommen: 42 Seiten, auf denen der forensische Psychologe Prof. Dr. Max Steller seine Beobachtungen festgehalten hat.
Beobachtungen, die der Neuauflage des Mordprozesses um den gewaltsamen Tod von Hanna W. eine neue Richtung geben können. Ist Sebastian T., der Angeklagte, fälschlich belastet worden? Offensichtlich hat der Berliner Experte Beobachtungen gemacht, die genau darauf hindeuten.
Max Steller war vom Landgericht Traunstein selbst beauftragt worden. Er ist eine der Größen in der Aussagepsychologie, gilt als führender Experte, wenn es darum geht herauszufinden, ob Zeugen vor Gericht lügen. In diesem Fall: Adrian M. Der war auf den Plan getreten, als der Prozess gegen Sebastian T. nur noch an einem seidenen Faden hing. Schließlich stellte sich schon kurz nach Beginn des Prozesses heraus, dass die Anklage auf schwachen Füßen stand: Die Hauptbelastungszeugin verwickelte sich immer stärker in Widersprüche.
Dabei war es ihre Aussage gewesen, die Sebastian T. zum dringend Tatverdächtigen gemacht hatte. Soll er sie wirklich schon am Abend des 3. Oktober 2022 gefragt haben, ob sie gehört habe, dass in Aschau eine junge Frau ermordet worden sei, gut 16 Stunden nach dem Tod Hannas? Es spricht einiges dafür, dass dieses Gespräch in Wirklichkeit erst am 4. oder 5. Oktober stattgefunden hat.
Dann hatte Oberstaatsanwalt Wolfgang Fiedler am 17. Oktober 2023, fünf Tage nach Beginn des Prozesses, eine überraschende Neuigkeit fürs Gericht. Es habe sich ein Zeuge gemeldet. Ein Zeuge, dem Sebastian T. seine Tat gestanden haben soll; dass er Hanna habe vergewaltigen wollen, dass er sie auf den Kopf geschlagen und schließlich in den Bärbach geworfen habe, um zu verhindern, dass sein Angriff ans Licht kommt. Adrian M. heißt dieser Zeuge, er will in den Wochen nach der Festnahme T.s am 19. November 2022 ein Vertrauensverhältnis zu T. aufgebaut haben.
Seine Aussage erschien Richterin Jacqueline Aßbichler und Staatsanwalt Fiedler so glaubhaft, dass sie sich per E-Mail sogar über eine Änderung des Tatvorwurfs austauschten. Es war dieser Austausch, der zum Befangenheitsantrag durch Regina Rick führte. Die Ablehnung dieses Antrags wiederum zog die Revisionsentscheidung des BGH nach sich.
Nun steht ein Vierteljahr vor der Neuauflage des Prozesses alles auf der Kippe. Am 25. Juni hätte der Haftprüfungstermin sein sollen. Nun hat die Erste Jugendkammer des Landgerichts Traunstein bereits früher entschieden, dass die Untersuchungshaft für Sebastian T. ausgesetzt werden kann. Die Entscheidung sehen Beobachter als Fingerzeig, in welche Richtung sich der Prozess selbst entwickelt.
Sebastian T. ist seit nunmehr zweieinhalb Jahren in der JVA Traunstein untergebracht. Yves Georg und Regina Rick hatten als Verteidiger dringend erreichen wollen, dass der junge Aschauer den Prozessbeginn im September auf freiem Fuß abwarten kann.
Der Verschiebung des Haftprüfungstermins vom 16. auf den 25. Juni hatten Rick und Georg dennoch zugestimmt. Steller hatte nun einmal die Arbeit an seinem Gutachten viel früher abgeschlossen als ursprünglich erwartet. Und um die Wichtigkeit seiner Beobachtungen wussten alle Prozessbeteiligten.
Steller habe dargelegt, warum Adrian M. unglaubwürdig und seine Aussage nicht glaubhaft sei, sagt Yves Georg nunmehr. An dieser Feststellung sei auch durch weitere Vernehmungen des Zeugen nicht mehr zu rütteln, „hinter dieses Ergebnis fallen wir nicht mehr zurück“.
Zu Unrecht
hinter Gittern?
Sitzt Sebastian T. also zu Unrecht hinter Gittern, starb Hanna W. womöglich sogar an einem Unfall? Am 3. Oktober 2022 hatte sie sich nach durchfeierter Nacht im Club „Eiskeller“ in Aschau kurz vor halb 3 Uhr morgens auf den Heimweg zu ihrem Elternhaus gemacht. Am Nachmittag desselben Tages wurde ihr lebloser Körper in der Prien entdeckt, zwölf Kilometer flussabwärts.
Hat sich Hanna ihre schweren Verletzungen durch das Treiben in Bärbach und Prien zugezogen? Die letzten Aufnahmen Hannas durch die Überwachungskamera des „Eiskellers“ zeigen die junge Frau, wie sie, in Richtung Kampenwandstraße gehend, in der Dunkelheit verschwindet. Bilder, die für die ganze rätselhafte Tragödie von Aschau stehen könnten.