Traunstein/Aschau – Zweieinhalb Jahre nach seiner Festnahme am 19. November 2022 hat Sebastian T. am Freitagmittag, 20. Juni, die JVA Traunstein verlassen – in Begleitung seiner Anwältin Regina Rick. Nach den langen Monaten der Untersuchungshaft ruht er sich aktuell im Kreise der Familie aus. Davon abgesehen bedeutet Freilassung nicht Freispruch. Sebastian T. ist Angeklagter in einem der aufwendigsten und kompliziertesten Fälle der vergangenen Jahre. Unverändert wird ihm vom Landgericht Traunstein der Prozess gemacht werden. Am 29. September beginnt die Neuauflage der Verhandlung. Und zwar am Amtsgericht Laufen, weil am Landgericht Traunstein der Große Saal bereits belegt ist.
Kein dringender
Tatverdacht
Und doch hat sich der Status von Sebastian T. entscheidend verändert. Denn er ist die Bürde des „dringenden Tatverdachts“ los. Nicht nur, dass ihm das die Rückkehr ins Elternhaus in Aschau ermöglicht. Das Gutachten, das zur Aussetzung der U-Haft führte, gibt auch einen Fingerzeig für die bevorstehende Verhandlung. „Die Aussichten sind sehr gut“, meint Verteidiger Dr. Yves Georg. Gutachter Professor Dr. Max Steller hatte festgestellt, dass die Aussage des wichtigsten Belastungszeugen ohne Beweiswert sei. „Glaubhafter wird diese Aussage auch durch eine zukünftige Untersuchung nicht werden“, sagte Georg dem OVB.
Der Belastungszeuge aus der JVA Traunstein ist damit aus dem Spiel. Er hatte den Prozess am Laufen gehalten, nachdem sich die ursprüngliche Belastungszeugin so schwer in Widersprüche verwickelt hatte, dass ihre Aussage nicht mehr ernst genommen werden konnte. Ursprünglich hatte sie berichtet, dass Sebastian T. sie am frühen Abend des 3. Oktober 2022 auf die Ermordung einer jungen Frau in Aschau angesprochen habe. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich noch nicht einmal die Gerichtsmediziner auf eine Gewalttat festgelegt, für die Ermittler hörte sich dieser Bericht also nach Täterwissen an. Im Laufe der ersten Tage dieser ersten Verhandlung stellte sich aber heraus, dass sie sich im Datum geirrt haben musste.
Doch dann trat Adrian M. auf den Plan. Der Untersuchungshäftling meldete sich bei der Staatsanwaltschaft. Und machte eine Aussage, die dem Prozess eine neue Richtung gab: Beim Kartenspielen habe ihm Sebastian T. gesagt, dass er die Tat begangen habe.
Die Aussage sei zentral gewesen, sagte Georg. „Außer dieser Aussage gab es keine weiteren Beweismittel, um auch nur dringenden Tatverdacht zu rechtfertigen. Wie sollte es da zu einer Verurteilung kommen?“ Keine DNA-Spuren, keine unmittelbaren Tatzeugen, kein Geständnis, keine Tatwaffe: Ohne die Aussage von Adrian M. bleibt von der Anklage nichts übrig.
Gutachten im Auftrag
des Landgerichts
Es war das Landgericht Traunstein selbst, das den renommierten Gutachter Professor Dr. Max Steller mit einem Gutachten beauftragt hatte. Aussagepsychologen wie Steller kommen normalerweise zum Einsatz, wenn es um die Beurteilung der Aussagen von Kindern und Jugendlichen geht. Dass der Berliner forensische Psychologe den Bericht eines Erwachsenen beurteilt, ist eine Besonderheit. Cornelia Sattelberger, Sprecherin des Landgerichts, erklärt dieses Ausnahmegutachten mit der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs (BGH).
Nach der Auffassung des BGH sei die Hinzuziehung eines Gutachters geboten, wenn der Zeuge von einer psychischen Erkrankung betroffen sei. Adrian M. hatte selbst gesagt, dass er an der Borderline-Persönlichkeitsstörung leide.
Auch ohne dieses Eingeständnis wäre das Misstrauen gegen Adrian M. wohl kaum zum Schweigen zu bringen gewesen. Er sah seinerzeit selber einer Verhandlung wegen Missbrauchs via Internet entgegen. Und zwar unter dem Vorsitz derselben Richterin, die auch die erste Auflage des „Eiskeller-Prozesses“ leitete: Jacqueline Aßbichler. Die gab zwar den Vorsitz ab. Und M. erhielt eine Strafe von vier Jahren und vier Monaten. Aber die Skepsis war nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Hatte M. nur in der Hoffnung auf einen Deal ausgesagt?
Er verstehe nicht, dass das Landgericht nicht schon damals, im Herbst 2023, ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt habe, sagte Verteidiger Yves Georg dem OVB – wenn es schon der Aussage eines zweifach persönlichkeitsgestörten Sexualstraftäters mit Motiv für eine fälschliche Belastung T.s Glauben schenken wollte. So ein Gutachten anzufertigen, benötigt freilich Zeit. Die von der Strafprozessordnung gesetzte Höchstdauer einer Prozessunterbrechung wäre wohl überschritten worden. Das hätte jedoch das Gericht nicht hindern dürfen, sagte der Hamburger Jurist: „Dann hätte man eben wieder von vorne beginnen müssen.“
Neustart am
29. September
Von vorne anfangen wird man nun also am 29. September. Weil der BGH einen Verfahrensfehler zu rügen hatte. Die Revision – auch sie hängt entscheidend mit dem JVA-Zeugen zusammen. Von seiner Aussage waren Richterin Aßbichler und Staatsanwalt Fiedler so überzeugt, dass sie sich per E-Mail darüber austauschten. An der Verteidigung vorbei, und damit die Sorge der Befangenheit weckend. Wird der neue Prozess ein kurzer Prozess? Schließlich scheint gegen den Angeklagten nichts Gravierendes mehr vorzuliegen. Cornelia Sattelberger dämpft die Erwartungen. Schließlich seien alle Beweise zu würdigen, die für den Angeklagten genauso wie die gegen ihn. Schließlich werde man auch die von der Verteidigung erstellten Gutachten genau prüfen.
Hanna W. kam am 3. Oktober 2022 ums Leben. Ihr lebloser Körper wurde in der Prien entdeckt, zwölf Kilometer von Aschau entfernt. War es Mord? Oder doch ein Unfall? Yves Georg geht wie seine Kollegin Regina Rick von einem Unfall aus, also von der Unschuld Sebastian T.s.