Rosenheim – Es ist erschreckend: In zahlreichen deutschen Kindertagesstätten ist verletzendes Verhalten durch Fachkräfte an der Tagesordnung. In einer Studie im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft „Mehr Sicherheit für Kinder“ kamen die Wissenschaftlerinnen Regina Remsperger-Kehm und Astrid Boll zu dem Ergebnis, dass „ein Fünftel der befragten Leitungskräfte verletzendes Verhalten häufig beobachtet“. Formen und Methoden sind vielfältig. Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gehört „jede Form der Missachtung von Kindern und ihren Rechten“ dazu. Wird also beispielsweise ein Kind von einer pädagogischen Fachkraft als „katastrophal, schlimm und auffällig“ bezeichnet, ist das eine verletzende Äußerung. Hört das Kind von seiner Erzieherin dann aber auch noch, dass jeder froh sei, wenn es weg ist, dann handelt es sich schon um seelische Gewalt.
Eine Geschichte,
viele Perspektiven
Katharina M. hat genau das erlebt. In einer Kita im östlichen Landkreis Rosenheim. Die konkreten Orte und Namen sind dem OVB bekannt. Zum Schutz der beteiligten Personen und weil es einen laufenden Rechtsstreit gibt, sind Ort und Personen anonymisiert. Erzählt werden muss die Geschichte von Katharina und ihrem Sohn Max (Namen geändert) trotzdem, denn sie ist passiert. Auch wenn sie jede der „handelnden Personen“ möglicherweise aus einer anderen Perspektive betrachtet.
„Ich habe nichts gegen offene Worte, in einem Elterngespräch oder im Rahmen des Entwicklungsgesprächs, aber meinem Sohn direkt zu vermitteln, dass er ein schlimmes Kind ist, nur Probleme macht, unerwünscht ist und alle froh sind, wenn er weg ist, das geht einfach nicht“, sagt die 33-Jährige.
Sie holte Max gerade aus der Kita ab, hatte ihn schon auf dem Arm, als ihr die Kita-Leiterin zwischen Tür und Angel erklärte, wie schlimm ihr Kind sei. Katharina machte sie auf das verletzende Verhalten aufmerksam: „Das, was du hier machst, hat für mich nichts mit Pädagogik zu tun.“ Doch „Diskussionen oder Reflexionen über die pädagogische Arbeit“ sind zwar im Konzept der besagten Kita verankert, scheinen im „partnerschaftlichen Umgang mit den Eltern“ aber nicht erwünscht zu sein. Zumindest hat Katharina das so erlebt.
„Ich kenne meinen Sohn“, sagt sie liebevoll schmunzelnd. „Er ist ein Lausbub, spielt gern den Clown und macht auch viel Blödsinn.“ Seit zwei Jahren ist er in der Kita, seit zwei Jahren nehmen sie und Max‘ Papa an den Entwicklungsgesprächen teil: „Und es gab nie größere Probleme, die zu außerplanmäßigen Gesprächen geführt hätten.“ Inzwischen ist Max ein Vorschulkind. Das bedeutet, dass er vormittags in der Grundschule ist, mittags mit dem Schulbus zurückkommt, an der Bushaltestelle von einer Erzieherin abgeholt und in die Einrichtung begleitet wird. So zumindest steht es im Konzept der Kita.
Nach einer Anfangsphase sollen die Kinder den Weg sogar „eigenständig bewältigen“. Max und sein Spezl haben das kürzlich unerlaubt ausprobiert, sich allein auf den Weg gemacht, im Kuhstall vorbeigeschaut, herumgetobt und sich gegenseitig auf die Straße geschubst. Das gab Ärger mit der Erzieherin. Erst für Max. Dann für seine Mama. „Plötzlich sagte sie mir, dass er oft auffällig sei“, berichtet Katharina. Auch das in Gegenwart des Kindes. Die Mutter war fassungslos und ist es noch immer, denn: „Auffällig, schlimm, katastrophal – wie muss sich ein Kind fühlen, das so abgewertet wird.“
Eskalationsstufen nach Streitgespräch
Doch mit der verbalen Auseinandersetzung von Mutter und Erzieherin beim „Tür-und-Angel-Gespräch“ war es nicht getan. Es muss richtig eskaliert sein, erzählt man sich später sogar in der Gemeindeverwaltung. Doch Katharina dachte sich: „Das kriegen wir schon hin, die Wogen glätten sich wieder.“ Sie habe sich aus der unsachlichen Diskussion in der Kita mit einem „Schönes Wochenende“ verabschiedet. „Und natürlich habe ich meinem Sohn daheim in aller Ruhe erklärt, dass es lebensgefährlich ist, auf der Straße herumzutollen und andere Kinder zu schubsen“, erzählt sie. Was sie nicht ahnte: Die Kritik am verletzenden Verhalten der Erzieherin sollte Folgen haben. Das bereits vereinbarte Entwicklungsgespräch wurde abgesagt. Nach Ansicht der Mutter mit „fadenscheinigen Begründungen“. Und dann rief der Bürgermeister persönlich bei Katharina an, um sie zu einem klärenden Gespräch in die Gemeindeverwaltung zu bitten.
„Ich saß vor
einem Tribunal“
„Ich habe mich gefreut, dass die Gemeinde als Träger der Einrichtung vermitteln möchte“, berichtet sie. Doch es war nur die nächste Stufe der Eskalation, erzählen Beobachter hinter vorgehaltener Hand. „Ich saß allein vor einem Tribunal aus Bürgermeister, Verwaltungsleiter, Kita-Leiterin und Stellvertreterin“, beschreibt Katharina eine Situation, die sie aufgrund von „Hierarchie, Dienststellung und Geschlossenheit“ als einschüchternd empfand.
Ob zwischen den beiden Frauen die Chemie einfach nicht stimmt oder ob es sich um einen Machtkampf einer Kita-Leiterin handelt, lässt sich von Außenstehenden nicht klären. Weder vom Bürgermeister, noch seinem Verwaltungsleiter. Was im Streitgespräch wirklich gesagt wurde, wissen nur zwei Frauen, die daran beteiligt waren. Doch nur eine von ihnen soll die Konsequenzen tragen.
Eine einvernehmliche Lösung scheint nicht in Sicht. Das Wort der Mutter steht gegen das eines Kita-Teams, das angeblich alles miterlebt haben will. Jede Seite hat nach dem Vorfall vorsorglich Gesprächsprotokolle angefertigt. Und so ergibt ein Wort das andere. Katharina muss sich vorwerfen lassen, nicht kooperationsbereit zu sein. Und auch eines wird klar: Ihre Aussage, die Erzieherin habe sich unpädagogisch verhalten, wird von der Gemeindeverwaltung nicht toleriert. Ihre Kritik wird als „beschimpfend und beleidigend“ eingestuft. Die einzige Lösung: „Wenn ich die Pädagogik der Einrichtung nicht akzeptiere, müsse mein Kind eben gehen, wurde mir wörtlich gesagt“, berichtet Katharina.
Um das Kindswohl ihres Sohnes oder das Einhalten pädagogischer Standards, wie sie in der Konzeption der Kita verankert sind, sei es gar nicht gegangen. „Die Kinder sollen Toleranz und Achtung vor den Mitmenschen erfahren, Kritik- und Konfliktfähigkeit erlernen“, zitiert Katharina aus dem Konzept. „Bei Kritik seitens der Eltern wird versprochen, dass sie sich jederzeit an das pädagogische Personal und die Kindergartenleitung wenden können.“
Katharina hat es anders erlebt und sich trotzdem entschuldigt. Für ein, wie sie sagt, mögliches Missverständnis. Vor allem aber für ihren Sohn. „Die Basis für die letzten zwei Monate in der Kita schien wieder geschaffen zu sein“, erinnert sie sich. Doch dann habe der Bürgermeister ihr noch einen letzten guten Rat mit auf den Weg gegeben: „Wenn er erfahre, dass ich mit anderen Eltern über die Situation spreche, dann müsse mein Kind sofort gehen.“
Aufforderung
zum Schweigen
Katharina war schockiert: „Wahrscheinlich dachten sie, dass sie mir einen Maulkorb verpassen und mich einschüchtern können, weil ich alleinerziehend und deshalb auf den Kita-Platz angewiesen bin.“ Doch sie hat einen aufrechten Weg gefunden. Für ihren Sohn und für andere Eltern, die in ähnliche Situationen geraten sollten. „Der Mangel an Fachkräften und Kita-Plätzen oder die hohen Belastungen im Kita-Alltag darf kein Grund dafür sein, dass kritischen Eltern mit dem Rausschmiss ihrer Kinder gedroht wird“, sagt sie entschlossen.
Sie hat sich gemeinsam mit Max‘ Papa gegen den Maulkorb entschieden, sich einen Anwalt zur Seite genommen und den Kita-Platz gekündigt. „Ich habe kein Vertrauen mehr in diese Strukturen, die ein Kind als Druckmittel benutzen und erlauben, dass Konflikte unter Erwachsenen auf seinem Rücken ausgetragen werden“, macht sie klar. Den Sommer verbringt Max mit seinen Eltern, „Home-Preschooling“ und Abenteuern. Im September kommt er in die Schule. Einen Platz in der Mittagsbetreuung hat er auch schon. Alles nicht mehr in seiner Heimatgemeinde, denn seine Eltern wollen ihm die Chance geben, neue Pädagogen kennenzulernen. „Solche, die ein Kind nicht als auffällig und katastrophal stigmatisieren, sondern es mit all seinen Stärken und Schwächen akzeptieren und fördern“, wünscht sich Katharina.
Ist Erpressung eigentlich erlaubt?
Der Vorfall ist für sie trotzdem noch nicht beendet: Sie hat Akteneinsicht gefordert, will die Entwicklungsberichte ihres Sohnes und die Gesprächsnotizen sehen. Auch will sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Landratsamt stellen, damit geprüft wird, ob Träger einer Kindereinrichtung die Eltern erpressen dürfen.
Die betroffene Gemeinde äußert auf OVB-Anfrage nur Folgendes: „Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu laufenden Rechtsstreitigkeiten nicht in der Öffentlichkeit äußern. Des Weiteren sind solche Dinge zum Schutz des eingesetzten Personals nicht öffentlich auszutragen. Daher können wir Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt keine Auskunft geben.“