Aschau/Traunstein – Auch eineinhalb Jahre nach der ersten Auflage des Prozesses um den gewaltsamen Tod von Hanna W. in Aschau ist der Fall hoch umstritten. Von einem Unfall spricht die Verteidigung, von Mord der Vertreter von Hannas Eltern, Rechtsanwalt Walter Holderle. Wie er die Freilassung des Angeklagten Sebastian T. vor der Neuauflage des Prozesses ab September einschätzt, warum er das Vorgehen des Gerichts kritisch sieht, und was Hannas Eltern schwer zu schaffen macht, sagt er exklusiv im Gespräch mit den OVB-Heimatzeitungen.
Das Gutachten von Professor Dr. Max Steller zur Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen hat für großes Aufsehen gesorgt. Kurz danach war Sebastian T. auf freiem Fuß. Wie sehr hat Sie diese Entwicklung überrascht?
Mich hat überrascht, wie das Ganze zustande gekommen ist. Und wie es mir als Vertreter der Eltern nahegebracht worden ist. Ich habe zufällig über Medien davon erfahren, dass im Laufe dieses Tages über den Haftbefehl entschieden werden würde. Dann habe ich erfahren, dass es ein Gutachten gibt, das der Verteidigung anscheinend schon relativ früh am Tag vorgelegen haben muss. Dass die Nebenklage hier ein weiteres Mal nicht beachtet worden ist, hat mich sehr verwundert. Ich musste selber telefonisch nachfassen. Die Berichterstatterin zeigte sich gleichfalls verwundert. Sie hat mir das Gutachten dann weitergeleitet. Da sah ich dann, dass die Entscheidung des Gerichts zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon gefallen war. Und die Frist für eine mir eigentlich zustehende Stellungnahme zu diesem Zeitpunkt gerade im Ablaufen war.
Alle Beteiligten hatten dann wenig Zeit zur Entgegnung. Oder täuscht das?
Wie gesagt, die Verteidigung muss es schon früh gewusst haben. Wieso der Schulterschluss zwischen Gericht und Verteidigung, unter Ausschluss der Nebenklage, so eng war, ist mir schwer erklärlich. Ich erinnere nur daran, dass sich gerade die Verteidigung im ersten Verfahren extrem echauffiert hatte, weil sich vermeintlich Richterin und Staatsanwalt hinter ihrem Rücken ausgetauscht hatten, was letztlich mit einem Befangenheitsantrag endete.
Wie beurteilen Sie die Entscheidung des Gerichts, aufgrund des Gutachtens die U-Haft aufzuheben?
Hm. Ich kann abschätzen, wie lange es dauert, sich in die Akten einzuarbeiten. Ich musste mich schließlich schon mal in diesen Vorgang einarbeiten. Wenn man berücksichtigt, dass der Bundesgerichtshof am 1. April entschieden hat, diese Entscheidung erst am 16. April veröffentlicht wurde und die ausgesprochen umfangreichen Akten erst danach, wohl im Mai, an das nun zuständige Gericht gelangt sind, dann kann das Gericht den komplexen Akteninhalt eigentlich noch nicht vollständig kennen. Und trotzdem entscheidet es auf der Basis eines Gutachtens. Und da zitiere ich, was in dem Gutachten steht: „Im Urteil ist wiederholt enthalten, dass der Zeuge in seinem Bericht über das Geständnis des Angeklagten ,Täterwissen‘ gezeigt habe.” Und weiter: „Wenn eine Aussageperson Tatdetails beschreibt, die ihr ausschließlich vom Täter selbst übermittelt worden sein können, so erübrigt sich aus hiesiger Sicht eine aussagepsychologische Glaubwürdigkeitsbeurteilung. Da eine solche in Auftrag gegeben wurde, wird geschlussfolgert, dass gesichertes Täterwissen bislang nicht vorliegt.”
Klingt wie ein Zirkelschluss.
Ganz genau! Der Gutachter schlussfolgert, wenn das Gericht mich beauftragt, dann ist für mich klar, es gibt kein gesichertes Täterwissen. Und weil es kein gesichertes Täterwissen gibt, darum mache ich dieses Gutachten so, wie es nunmehr vorliegt. Das ist ein Zirkelschluss!
Welches Detail ist denn zum Beispiel Täterwissen?
Ich zitiere hier aus dem Urteil des LG Traunstein vom 19. März 2024. „Dass die Frau bewusstlos geschlagen wurde, damit sie sich nicht wehrt, bzw., dass es kein Kampfgeschehen gab, war nie Thema in Presseartikeln, weder denjenigen, die unmittelbar nach der Tat erschienen noch denjenigen, die nach Beginn der Hauptverhandlung am 12. Oktober 2023 erschienen. Dies wusste nur der Täter. Dass die Schläge gesetzt wurden, um zu verhindern, dass die Frau sich wehrt, deckt sich aber objektiv vollständig mit den rechtsmedizinischen Erkenntnissen.“ Hieran anknüpfend führt das Landgericht Traunstein ab Seite 207 des Urteils noch weitere Details an, die belegen, dass in dem Gespräch Umstände geschildert wurden, welche nur der Täter wissen konnte.
Also hätte es kein Gutachten gebraucht?
Die Antwort gibt der Sachverständige Professor Dr. Steller in seinem Gutachten vom 18. Juni 2025 selbst. Es gibt Tatdetails, die dem Zeugen ausschließlich vom Täter selbst übermittelt worden sein konnten. Damit erübrigt sich eine aussagepsychologische Glaubwürdigkeitsbeurteilung! Die Glaubwürdigkeit des Zeugen ist vielmehr durch das ihm übermittelte Täterwissen nachgewiesen. Wie die nunmehr zur Entscheidung berufene Kammer des LG Traunstein auf der Basis eines damit sogar nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht relevanten Gutachtens den dringenden Tatverdacht des Angeklagten verneinen konnte, ist mir absolut unverständlich.
Es soll zudem neue Erkenntnisse im Fall geben.
Es gibt tatsächlich neue Erkenntnisse, aber die befinden sich in einem Stadium, in dem man aus ermittlungstaktischen Gründen keine genaueren Angaben machen kann.
Viele Beobachter sehen in der Aufhebung der U-Haft eine Vorentscheidung für einen Freispruch. Ist sie das auch für Sie?
Nein. Die nun zuständigen Berufsrichterinnen sind mir als sehr gute Juristinnen und sehr besonnen arbeitende Richterinnen bekannt. Die werden den gesamten Lebenssachverhalt mit Sicherheit sehr sorgfältig aufarbeiten. Ihre aktuelle Entscheidung kann ich mir nur so erklären, dass sie sich durch die von der Verteidigung bewusst einseitig informierten Medien unter Druck gesetzt sahen. Das wird kein Dauerzustand sein. Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen muss ein Gericht immer selbst auf der Basis sämtlicher in diesem Zusammenhang maßgeblicher Umstände beurteilen. Es wird nicht entschieden ohne sorgfältige Lektüre der Akten, jedenfalls nicht rein auf der Basis dieses – wie dargelegt nicht relevanten – Gutachtens.
Wie geht es Hannas Eltern?
Die Eltern haben sich dem Verfahren gegenüber immer sehr offen verhalten. Es hat ja auch jeder gemerkt, dass sie nicht von vornherein Sebastian T. zum Schuldigen gemacht haben. Sie erhofften vielmehr vom Prozess, dass alles aufgeklärt wird. Zu schaffen macht ihnen nun die Version der Verteidigung mit diesem widersinnigen Unfallgeschehen, in dem zum Beispiel die Verletzungen durch Schrauben erklärt werden, was nie und nimmer sein kann. Wenn man sich noch anschaut, dass sich große Teile der Presse haben blenden lassen, kann man verstehen, wie schockiert die Eltern sind.
Wenn man die Unfall-These ablehnt, dann geht man zwingend davon aus, dass es einen Täter gibt. Ob der Sebastian T. heißt oder nicht.
Das beunruhigt, glaube ich, nicht nur die Eltern, sondern die gesamte Bevölkerung. Vor allem in Aschau. Weil man sich klar sein muss: Es war kein Unfall, sondern ein Gewaltverbrechen. Und damit gibt es einen Täter. Und der läuft frei herum.Interview: Michael Weiser