Brannenburg – Ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Fernseher und ein paar gerahmte Fotos zieren die sonst kahlen Wände des etwa 20 Quadratmeter großen Zimmers im Seniorenheim in Brannenburg. So bleibt genug Platz für den elektrischen Rollstuhl und das Ergometer, mit dem sich Horst Nufer (64) fit hält, so gut er noch kann.
Vor gut 20 Jahren wurde bei ihm Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert. Für den sportlichen Bergwachtler und seine Familie ein Schock. Bis vor knapp drei Jahren konnte er noch mit einem Rollator laufen. Seit einem Sturz ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Vor zwei Jahren verließ er sein Zuhause und zog ins Heim.
Nufer will
noch was erleben
Horst Nufer liebt die Berge. 40 Jahre war er bei der Bergwacht Bad Feilnbach aktiv. Auch privat gehörten Wandern und Klettern zu seinen liebsten Aktivitäten. Den Kopf in den Sand stecken, sich gehen lassen, aufgeben – für Nufer keine Option. So oft er kann, geht er aus, trifft sich mit Freunden. Zu den anderen Heimbewohnern hat er wenig Kontakt, wie er erzählt. Viele hätten kognitive Beeinträchtigungen. Sein Kopf funktioniere noch gut, sagt er. Und er wolle noch etwas erleben. Schon immer hat er davon geträumt, einen Gleitschirmflug zu machen. Ein Traum, der jetzt in Erfüllung ging – trotz MS.
Die ersten Symptome der Krankheit machten sich während einer Fahrt auf der Autobahn bemerkbar, erinnert sich der 64-Jährige. Das war 2004. „Statt drei waren da auf einmal sechs Spuren.“ Das Doppelsehen sei eines der ersten typischen Symptome von MS, erklärt er. Das Symptom wurde mit der Zeit bei ihm schlimmer. 2008 bekam er endgültig die Diagnose Multiple Sklerose. Damals war er 47 Jahre alt.
Was die Krankheit bedeutet und wie sie sich entwickelt, hat der gebürtige Bad Feilnbacher bereits als junger Mann erlebt. Denn auch seine Mutter war an MS erkrankt. Für die Geschwister und den Vater eine schwierige Situation, die das Leben der Familie auf den Kopf stellte. Denn die chronisch-entzündliche Erkrankung befällt Gehirn und Nervensystem. Laut der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) äußert sich die Krankheit bei jedem Patienten anders. Sie wird deshalb auch „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ genannt.
Seine Lebensfreude will sich Nufer von der Krankheit aber nicht nehmen lassen. Er wollte hoch hinaus, höher als die Berggipfel, die er bestiegen hat. Unterstützung bekam er dabei von seinem Freund Mane Engelsberger. Die beiden kennen sich seit 45 Jahren, waren beide bei der Bergwacht, gingen oft gemeinsam klettern. „Ich versuche, ihm Dinge zu ermöglichen, die er sich wünscht“, erläutert Engelsberger. Oft hole er ihn ab, bringe ihn auch mit dem Rollstuhl noch auf den Berg. „Solche Aktionen klappen aber nur, wenn man keine Angst hat“, sagt Engelsberger. So war auch schnell ein Pilot für den Gleitschirmflug gefunden: sein Schwiegersohn Berni Pardeller. Vor anderthalb Jahren machte der 29-Jährige seinen Tandem-Schein. Doch nicht nur das. Mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße erfüllte er die perfekten physischen Bedingungen, um mit einem Menschen zu starten und zu landen, der seine Beine nicht bewegen kann.
Lange im Voraus habe man geplant und getüftelt, wie sie Nufer in die Luft und wieder sicher auf den Boden bekommen, erklärt Pardeller. „Ich brauchte Helfer und den perfekten Tag“, sagt er. Wind und Thermik mussten stimmen. Und trotz aller guten Planung, Pardeller weiß: „Ein Restrisiko bleibt immer.“
Als die Wetterbedingungen perfekt waren, kam Unterstützung von der Bergwacht und vom Drachen- und Gleitschirmflieger-Club Tegernseer Tal (DGCTT). Mit vier Helfern am Berg und dreien am Boden ging es bei vorerst besten Bedingungen am Sudelfeld in die Höhe. „In der Luft ist Horst wie jeder andere Passagier auch. Start und Landung waren eine Herausforderung“, erklärt Pardeller.
Während des Tandemflugs ließ der Wind nach, sodass Pardeller und Nufer vorzeitig landen mussten. Und auch dabei musste Pardeller kreativ werden: Damit Nufer sich kein Bein verdreht, stellte er den Gurt für den Passagier auf maximalen Abstand ein. „Für die Landung habe ich ihn dann nach unten gedrückt.“ So landete Nufer auf Gesäß und Rücken – und ohne Verletzungen. Die Versuche der drei Helfer am Boden, die beiden aufzufangen, waren vergebens. „Dafür waren wir zu schnell unterwegs“, schmunzelt Pardeller.
In Sachen Haftung ist die Lage für einen solch gewagten Tandemsprung laut Pardeller unklar. Was, wenn etwas schiefgegangen wäre? Wer wäre dann verantwortlich? Trotz der ungeklärten Fragen, wollten der Gleitschirmpilot und seine Helfer Horst Nufer seinen Wunsch erfüllen. „Und es hat ja alles geklappt.“ Auch im Verein sei die Aktion positiv diskutiert worden. Nun soll die Haftungsfrage geklärt werden, um auch weiteren Menschen mit Handicap das Gleitschirmfliegen zu ermöglichen.
Anderen Betroffenen Mut machen
Nufer lächelt, wenn er an den Flug denkt. Mit der Aktion möchte er anderen Betroffenen – seien es MS-Patienten oder Menschen mit anderen Behinderungen – Mut machen. „Vielleicht motiviert es ja auch andere, über ihre Grenzen zu gehen und sich etwas zu trauen.“ Für ihn war das erst der Anfang. „Leider waren es am Ende nur zehn Minuten“, sagt er. Angepeilt waren 20 bis 30 Minuten Flugzeit. Doch der 64-Jährige hat schon eine Idee, wie er die „verlorene Zeit“ aufholen kann. „Ich will nächstes Jahr wieder fliegen.“