Chiemsee – Die rechtlichen Vorgaben waren gegeben, der Pegelstand bei Seebruck an der Alz mit 150 deutlich über den nötigen 116 Zentimetern. Dazu ergaben Messungen von Biologen, dass in einem Liter Wasser in Überschwemmungsgebieten am Chiemsee über 400 Mückenlarven zuckten. Also flog am vergangenen Samstag ein Hubschrauber über die Überschwemmungsgebiete rund um den Chiemsee und verteilte das Granulat mit dem Protein bacillus thuringiensis israelensis, kurz „bti“. Zuständig für Messung und Verteilung ist die Kommunale Aktionsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage (KABS), die in der Oberrheinebene beheimatet ist und für den Chiemsee extra eine Tochtergesellschaft gründete.
Spezielle Mücken-Art
im Fokus der Aktion
Der Abwasser- und Umweltverband Chiemsee (AUV) kommuniziert mit KABS, forderte auch die Schöpfproben der Larven an. AUV-Geschäftsführer Quirin Schwaiger war mit dem Einsatz sehr zufrieden: „Gut, alles verlief wie geplant.“ Das Ziel sei keine Entlastung der Stechmückenanzahl gewesen, „sondern, dass es keine Belastung gibt und das ist quasi erreicht.“ Mit den Flügen werden nicht Mücken bekämpft, die schon unterwegs sind, sondern Mücken, die jetzt kämen. „Die Mücke, die wir bekämpfen, ist eine spezielle Mückenart, die bei Überschwemmungen kommt“, erklärt Schwaiger. Überschwemmungen gab es Ende Juli erstmals in diesem Jahr.
Naturschützer: Gefahr
für die Nahrungskette
Eine klare Gegnerin des bti-Einsatzes ist Beate Rutkowski, Biologin und Vorsitzende der Kreisgruppe Traunstein des BUND Naturschutz: „Auch wenn die rechtlichen Vorgaben für einen bti-Einsatz gegeben waren und der Einsatz somit genehmigungsfähig war, sind wir nicht glücklich, wenn zum Beispiel Naturschutzgebiets-Flächen an der Hirschauer Bucht betroffen sind.“ Ihr Hauptkritikpunkt: „Wenn möglichst viele Larven getötet werden sollen, was ja das Ziel ist, hat das natürlich Auswirkungen auf die Nahrungskette, vor allem eben auch in Naturschutzgebieten.“
Programm berechnet
Flugkarte für Piloten
Schwaiger flog beim Einsatz eine Runde mit im Helikopter: „Mich hat es interessiert, wie genau das funktioniert.“ Der Pilot fliege eine GPS-gestützte Karte ab. Ein Programm berechnet aufgrund der Larvenanzahl der Proben, wo bekämpft werden muss. „Am Freitag um 22 Uhr war noch der Stand, dass wir 700 Hektar bekämpfen müssen, am Samstag um 7 Uhr waren es nur noch 530 Hektar. Das Programm rechnet das auf das Minimale der Fläche runter und erstellt so für den Piloten eine Karte“, beschreibt Schwaiger das Vorgehen. Per Knopfdruck wird dann das Mittel verteilt.
Ungefähr 20 Meter breit ist die Ausbringung, in Linienform fliegt der Heli die Bereiche dann ab. 50 Meter über dem Boden dürfte der Hubschrauber fliegen, laut Schwaiger bewege sich die Höhe um die 70 Meter, „die Bodenhöhe ist ja wegen der Tiere entscheidend, vor allem hinsichtlich der Vögel“. Mit der GPS-Karte wird dann auch aufgezeichnet, wo wie viel Granulat verteilt wurde. „Die Auswertung, einen extrem detaillierten Bericht, werden wir aber erst im Herbst bekommen. 2020 waren es fast 450 Seiten, in denen dieses ganze Monitoring beschrieben ist“, sagt Schwaiger.
Der Einsatz werde laut Schwaiger auch wissenschaftlich begleitet, Langzeitfolgen am Chiemsee seien aber kaum möglich, da der Vorgang nicht kontinuierlich ist. Am Rhein, wo die KABS regelmäßig mit bti Stechmücken bekämpfe, wurden bisher keine Langzeitfolgen für Tiere und Umwelt festgestellt.
Große Sorge um die
„Nichtzielorganismen“
„Ich fürchte, dass der Einsatz wieder nicht wissenschaftlich begleitet wird, dazu hätte es ja ein mit den Naturschutzbehörden abgesprochenes Konzept geben müssen“, teilt Rutkowski dem OVB mit. Zu einer langfristigen Beobachtung gehören laut ihr auch Nullaufnahmen, Vergleichszahlen von Bruterfolgen oder Fledermauspopulationen und vieles mehr. Rutkowski: „Die gibt es nicht und auch sonst wäre es sehr schwer, Veränderungen auf direkte Auswirkungen von bti zurückzuführen.“
Weil es so schwer sei, diese Auswirkungen zu belegen, „ist es auch umgekehrt unzulässig zu sagen ‚es macht nichts‘. Dazu gibt es keine Untersuchungen.“ Zumindest nicht am Chiemsee. „Aus Laboruntersuchungen wissen wir, dass auch andere Nichtzielorganismen betroffen sind. Dass die Reduzierung von Nahrungsangebot Einfluss auf die Fitness einer Population hat, liegt auf der Hand“, sagt die Biologin. Sie war noch bei keinem Einsatz vor Ort, für sie ist, wie für Schwaiger, die Einhaltung der Flughöhe wichtig, vor allem Wiesenbrüter könnten durch den Helikopter gestört werden.
Ein weiterer Flug wäre in diesem Jahr laut Schwaiger noch möglich. Die Schöpfproben am Sonntag, 3. August, ergaben deutlich weniger Larven als bei den Messungen am Donnerstag. Eine genaue Zahl wisse der AUV-Chef nicht. Es zeige aber, dass sich durch den bti-Einsatz die Larven reduziert haben.
Es bleibt dabei, die Meinungen über den Einsatz gehen weit auseinander. Menschlicher Komfort und ein Segen für geplagte Anwohner und die Tourismusbranche einerseits und Schutz des empfindlichen Ökosystems am bayerischen Meer und damit ein rotes Tuch für Naturschützer andererseits. Der Disput um das feine Granulat aus der Luft wird so zu einer Grundsatzfrage: Wie weit darf der Mensch in die Natur eingreifen, um seine eigenen Interessen zu wahren?