Rosenheim – Seit fünf Jahren gibt es die Wandergruppe „TROTZdem Gehen – Heilsames Wandern“. Einmal im Monat organisiert Initiatorin Anja Arnold eine Wanderung für Menschen mit körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung.
Wandern, Bergsteigen, Spazierengehen – für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht weiter nachdenken muss. Sie packen am Wochenende, im Urlaub oder am Feierabend ihren Rucksack und gehen einfach los. Aber es gibt auch Menschen, für die das keine Selbstverständlichkeit ist, Menschen, die einen schweren Schicksalsschlag erlebt haben, einen Schlaganfall, einen schweren Unfall oder eine andere Krankheit, die sie in ihrem Leben einschränkt. Die nicht mehr einfach drauflos wandern können, aber trotzdem gehen wollen.
Auch „Krankheiten
für sechs Menschen“ stoppen Kirstin Spilker nicht
Eine solche Frau ist Kirstin Spilker. Die Pangerin hatte mit 49 Jahren eine schwere Hirnblutung als Folge eines Aneurysmas im Gehirn mit zahlreichen Folgen. Sie habe „Krankheiten für sechs Menschen“, so die gelernte Krankenschwester mit Zusatzausbildung in Intensivmedizin. Vor über elf Jahren ist das nun geschehen. Sie ist halbseitig gelähmt und auf ihren Mann Ralph und den Rollstuhl angewiesen. „Es gibt sehr vieles, was nicht mehr geht, aber auch sehr vieles, was geht, aber eben langsam.“ Kirstin Spilker ist eine der Teilnehmerinnen am Wandertag der Selbsthilfegruppe „TROTZdem Gehen“, die vor fünf Jahren von einer Betroffenen ins Leben gerufen wurde: Anja Arnold. Die heute 49-Jährige gründete die Gruppe nach einem schweren Autounfall. Einmal im Monat treffen sie sich. Treffpunkt ist dieses Mal der Parkplatz an der Nicklheimer Filze. Trotz der angesagten 30 Grad finden sich zehn Geher ein. Anja Arnold begrüßt sie und fragt: „Wie seid Ihr da?“ Die Antworten lauten: „Gesund, gut drauf, ganz gespannt, abwartend…“ – lauter positive Reaktionen. Der Wanderweg in der Nicklheimer Filze ist ideal bei dieser Hitze: Viel Schatten und immer wieder Bänke für eine kleine Pause. Das langsame und heilsame Wandern könnte man durchaus als „Waldbad“ bezeichnen. Kirstin Spilker kann trotz ihrer halbseitigen Lähmung mit einem Stock langsam gehen, ihr Mann Ralph, der an einer Krebserkrankung leidet, schiebt den Rollstuhl neben ihr her. „Wir kommen immer dazu, es gibt immer gute Gespräche und wir sind eine tolle Gruppe. Wir sind froh, dass es diese Initiative gibt.“
„Ich habe nach einer Gruppe gesucht, mit der ich mit meinen Einschränkungen wandern kann, aber es gab rein gar nichts“, erzählt Anja Arnold, die immer gerne in der Natur und in den Bergen unterwegs war – vor dem schweren Autounfall 2017, bei dem ihr ein Lkw frontal in ihr Auto fuhr. Und dann habe sie in Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe-Kontaktstelle in Rosenheim diese Gruppe gegründet. „Wir unterstützen Sie dabei“, wurde ihr da gesagt, und so kam es zu Hinweisen in der Zeitung und in den Sozialen Medien und zu einem ersten Treffen mit sechs Teilnehmern. Mittlerweile ist die Gruppe auf 30 Teilnehmer gewachsen. „Manchmal kommen Leute nach schweren Operationen, die nach einem gesundheitlichen Schicksalsschlag Anschluss an Gleichgesinnte suchen, vielleicht ihr Selbstvertrauen verloren haben und einfach wieder langsam anfangen zu gehen. Hier gibt es das Problem des Nicht-Nachkommens, des Zu-langsam-Seins einfach nicht.“
Manuela Schneider kommt extra aus Sauerlach zu dieser Wanderung der besonderen Art. Die große Frau mit gelbem Kleid und dazu passender Sonnenkappe wurde als 20-Jährige von einem Motorradfahrer erfasst und quasi durch die Luft geschleudert. Sie lag danach im Koma und bezeichnet das Erlebte als Nahtoderfahrung. Ein Sanitäter des Rettungsteams, mit dem sie heute noch Kontakt hat, sagte, sie habe noch die Augen aufgeschlagen und geflüstert: „Ich schaffe das.“ Und er meint heute, sie könne im nächsten Leben als Stuntfrau arbeiten. Der Unfall prägte ihr ganzes Leben und tut es auch heute noch, wo sie vieles wieder einholt. „Nach so einem Ereignis ist man nicht mehr die, die man vorher war, man bekommt mehr Resilienz, mehr Widerstandskraft.“ Und, so die 60-Jährige, sie sei eine Tiroler „Rossnatur“, eine, die so schnell nichts umhaue, nicht einmal ein Motorradfahrer. Sie sei so oft aufgestanden im Leben, da gehe immer noch was.
Mittlerweile sind alle, jeder in seinem Tempo, im Rollstuhl oder mit Stöcken, am Beobachtungsturm in Nicklheimer Filze angelangt. Hier hat man einen wunderbaren Blick über die Seenlandschaft bis in die Berge. Alle versammeln sich um den Tisch, es weht ein angenehmes Lüftchen. Ilse Kammerer geht von Anfang an „TROTZdem“. Die Rosenheimerin hat kein eigenes Auto, aber Ralph und Kirstin Spilker nehmen sie immer mit. „Es ist einfach super, dass es so etwas gibt“, sagt sie. Alle sind bestens gelaunt, stolz und froh, dass sie es geschafft haben, dass es eine solche Gemeinschaft gibt. Anja Arnold drückt es so aus: „Es ist großartig zu spüren, wie viel Kraft noch in einem Körper steckt, der so verletzt war.“ Sie selbst sei eine Optimistin und weiß, dass ein Leben nicht ewig währt. „Ich lebe jetzt.“ Jedes Jahr, am Unfalltag, feiert sie ein zweites Mal Geburtstag. „Da ist eine andere Anja daraus hervorgegangen.“ Eines ihrer Zukunftsziele ist Norwegen, wo sie die Polarlichter sehen will. „Man wird zufriedener und auch glücklicher“, sagt Manuela Schneider, die gebürtige Tirolerin im gelben Kleid.
Dankbarkeit und Demut – das sind Worte, die in unserer Gesellschaft so selten benutzt werden. In dieser Gruppe von schwer kranken oder verletzten Menschen hört man sie oft. Sie stehen zu ihren Gebrechen, mit denen sie gelernt haben zu leben, und Kirstin Spilker sagt trotzdem: „Ich lebe gern.“ Es gehe nicht alles so, wie man es von früher gewohnt sei, aber es gehe. „Und in allem das Positive sehen“, ergänzt Rosi Rummel.
Zum Fünfjährigen soll es auf den Berg gehen – so weit nach oben, wie es nur geht
Die Geher machen sich auf den Rückweg und verabreden sich zum Kaffeetrinken im Werkhaus Raubling. Im September wird Anja Arnold mit diesen Menschen das fünfjährige Jubiläum feiern – ein Jubiläum des Schaffens, des Aufstehens, der Widerstandskraft, des Optimismus und des „TROTZdem Gehens“. In diesem Wort steckt so viel, was sie mit ihrer Idee und Initiative geleistet hat: der Trotz, den man braucht, um etwas, das man sich in den Kopf gesetzt hat, durchzusetzen, und das Gehen, das für das Weitergehen in einer solchen Situation steht.
Kürzlich lüftete sie das Geheimnis, wohin es zum fünfjährigen Jubiläum gehen wird. Sie möchte, dass alle auf einem Berg stehen, so weit oben, wie es nur geht. Es geht auf die Kampenwand, von wo man einen wunderbaren Blick auf den Chiemsee hat. Sie habe bereits geklärt, dass man in der Gondelbahn einen Rollstuhl mitnehmen könne. Kirstin und Ralph Spilker werden selbstverständlich dabei sein. Auf einer Alm wird es ein kleines Fest geben, und von dort aus kann dann jeder so weit gehen, wie es halt geht. Hauptsache gehen, TROTZdem gehen.