„Wir schaffen das – weiterhin“

von Redaktion

Interview So hat sich die Flüchtlingssituation in der Region verändert

Rosenheim– Zehn Jahre ist es nun her, dass die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Satz „Wir schaffen das“ in Bezug auf die Flüchtlingskrise sagte. Dass diese Aussage wohl einmal in die Geschichte eingehen wird, damit hätte sie damals wohl nicht gerechnet. Konkret sagt Merkel damals in der Bundespressekonferenz am 31. August 2015: „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“

Und heute, zehn Jahre später, ist die Flüchtlingssituation nach wie vor eines der Themen in Politik und Gesellschaft. Doch was hat sich seitdem in Stadt und Landkreis Rosenheim getan? Sophie Fürstenau und Petra Gäbelein vom Fachdienst Asyl und Migration bei der Caritas in Rosenheim geben einen Einblick.

Vor zehn Jahren sagte Angela Merkel ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“. Was hat sich in diesen zehn Jahren bei der Flüchtlingsarbeit in Stadt und Landkreis Rosenheim verändert?

Sophie Fürstenau: Unser eigenständiger Fachdienst Asyl und Migration existiert seit Januar 2016. Das zeigt schon, dass die Flüchtlings- und Integrationsberatung von da an einen größeren Stellenwert eingenommen hat. Dieser Fachbereich musste aber auch erst einmal entwickelt werden.

Was waren dabei die größten Herausforderungen?

Fürstenau: Es hat sich relativ schnell gezeigt, dass das ein Bereich ist, der sich rechtlich oft verändert. Wir brauchen Mitarbeiter, die in der Lage sind, sich gut einzuarbeiten, am Ball bleiben und die Regelungen in Koordination mit den Behörden umzusetzen. Das hat sich in den vergangenen zehn Jahren enorm professionalisiert.

Petra Gäbelein: Zu Beginn hatten wir eine Art Feuerwehrfunktion und haben überlegt, wie man das alles organisieren und schaffen kann. Da musste man auch oft mal schnell in eine Unterkunft fahren, um etwas zu klären. Heute ist schon vieles strukturierter. 

Wie hat der „Wir schaffen das“-Gedanke Ihre Arbeit damals beeinflusst?

Gäbelein: Ich denke, Merkel hat durchaus dazu beigetragen, dass sich dieser Gedanke „Wow, da kommt jetzt viel auf uns zu, aber wir packen das an“ verbreitet hat.

Und wie ist die Stimmung heute?

Gäbelein: Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für unsere Arbeit sind schwieriger geworden. Es gibt viele nationalistische, rechte Tendenzen in unserer Gesellschaft, und wir müssen uns immer wieder für unsere Arbeit rechtfertigen.

Was hören Sie vonseiten der Geflüchteten? Die bekommen diesen Wandel ja bestimmt auch mit.

Gäbelein: Manche fühlen sich nicht willkommen, teils sogar stark abgelehnt. Da kommen dann auch Gedanken auf, wie es hier überhaupt weitergehen kann oder wie man selbst reagieren soll, wenn einem Rassismus begegnet. Und auch, wie man trotz dieses Wandels in der Gesellschaft seine Ziele erreichen kann.

Wie unterstützt man Menschen in dieser Situation?

Fürstenau: Das hängt sehr individuell von den Menschen ab, mit denen wir zusammenarbeiten. Im ersten Schritt bringen wir den Menschen „Psycho-Hygiene“-Standards nahe. Also wie man psychisch stabil bleibt, wenn die Situation außen herum vielleicht gerade nicht so angenehm ist. Außerdem vermitteln wir auch entsprechende Anlaufstellen, an die sich Betroffene von Übergriffen oder rassistischen Beleidigungen wenden können. Zudem klären wir auch darüber auf, dass jeder das Recht hat, Anzeige zu erstatten, wenn es sich um strafrechtlich relevante Tatbestände handelt.

Sind es dann eher solch psychosoziale Themen, mit denen die Menschen zu Ihnen kommen, oder auch etwa bürokratische?

Fürstenau: Die Kommunikation mit den Behörden nimmt bei Menschen, die noch nicht so lange in Deutschland sind, erst mal einen Großteil der Beratung ein. Später geht es allerdings auch um Arbeitsmarktintegration und die Wohnungssuche und auch darum, was man sich manchmal gefallen lassen muss und was eben nicht.

Stichwort Integration: Haben wir es in den vergangenen zehn Jahren geschafft, die Menschen, die hier in der Region angekommen sind, zu integrieren?

Fürstenau: In den Medien liest man ja immer wieder von den Negativbeispielen. Wenn man eine Gesamtschau unserer Jahre in der Beratung macht, sieht man, dass wir wahnsinnig viele Klienten haben, die nicht mehr bei uns in der Beratung sind – was ja das Ziel der Sache ist. Die sind mittlerweile so gut integriert, dass sie ein ganz normales und unauffälliges Leben führen.

Gäbelein: Vom Jobcenter erhalten wir auch immer wieder die Rückmeldung, dass die Integration in den Arbeitsmarkt hier gut klappt.

Und die Gesellschaft spielt ja auch eine Rolle bei der Integration…

Fürstenau: Ja, das ist für mich auch ein Teil dieses „Wir schaffen das”. Da gehört die Bereitschaft der aufnehmenden Bevölkerung dazu, erst mal unvoreingenommen auf die Menschen zuzugehen und ihnen auch die Teilhabe zu ermöglichen. Im ländlichen Raum also etwa die Möglichkeit, in den Schützenverein, den Trachtenverein, den Kirchenchor oder zum Fußballverein zu gehen und dort aufgenommen zu werden, ohne schief angeschaut zu werden. 

Gab es in den vergangenen Jahren eine Art Meilenstein, auf den Sie heute noch gerne zurückblicken?

Gäbelein: Vielleicht keine Meilensteine, die messbar wären. Aber wir haben bereits geschafft, dass ganz viele Klienten jetzt alleine zurechtkommen, ein Teil der Gesellschaft sind und die auch etwas zurückgeben können. Das sehe ich immer wieder als Höhepunkt dieser Arbeit.

Fürstenau: Besonders schön ist es, wenn Klienten, die man anfangs selbst betreut hat, mittlerweile selbst ehrenamtlich tätig sind und das weitergeben, was sie in den letzten Jahren gelernt haben.

Was hat sich beim Ehrenamt in den vergangenen Jahren getan? Ist die Zahl der Helfer geschrumpft?

Fürstenau: Also, im Vergleich zu 2015 haben wir schon deutlich weniger Ehrenamtliche in Stadt und Landkreis, die sich aktiv engagieren. Allerdings haben die Ehrenamtlichen, die Klienten schon lange begleiten, eine wahnsinnige Expertise entwickelt. Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges haben sich dann allerdings noch einmal viele Menschen engagiert. 

Wie viel, würden Sie sagen, ist heute von „Wir schaffen das“ noch übrig?

Gäbelein: Ich glaube, dass sich durch den Ukraine-Krieg und diese gefühlte Nähe zu den Menschen von dort noch einmal eine Welle dieses Gedankens gebildet hat, die aber inzwischen auch schon wieder etwas abgeebbt ist. Die Gesellschaft wird leider immer mehr gespalten. Auf der einen Seite gibt es nach wie vor sehr viele Menschen, die noch offen sind und sehen, welche Vorteile ein Staat mit Menschen aus verschiedenen Ländern hat.

Und auf der anderen Seite gibt es das genaue Gegenteil…

Gäbelein: Ja, es gibt diese Seite, die sehr viele Ängste und Befürchtungen hat. Man muss sich aber fragen, welche Seite die lautere ist.

Und wie würde Ihr Fazit ausfallen: Haben wir es geschafft?

Fürstenau: Ich glaube, wir sind gut unterwegs und müssen schauen, dass die Dinge, die wir erreicht haben, auch bleiben und fortgesetzt werden. Wir haben wirklich gute Strukturen geschaffen. Gerade in Kooperation mit den Behörden und Trägern. Umso wichtiger ist es, dass auf politischer Ebene klar ist, dass wir diese Angebote auch weiterhin brauchen. 

Gäbelein: Es ist ein fortwährender Prozess. Ich würde sagen: „Wir schaffen es weiterhin.“

Interview: Patricia Huber

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