„Ein Skelett am Meeresgrund“

von Redaktion

Interview Titanic-Expertin Brigitte Saar über die Faszination des Schiffs

Rosenheim – Vor 113 Jahren ging sie unter, am 1. September 1985 wurde sie wiederentdeckt: Die „Titanic“ fasziniert nach wie vor unzählige Menschen. Warum die Tragödie so berührt, darüber weiß Expertin Brigitte Saar bescheid. Sie erklärt im OVB, was Schweizer Zuverlässigkeit mit der „Titanic“ zu tun hat, wie vor 113 Jahren ein Augenblick der Geschichte eingefroren wurde und warum „unsinkbar“ tatsächlich „eigentlich unsinkbar“ bedeutet.

In der lichtlosen Tiefe des Atlantiks liegt ein korrodierender Haufen Metall, untergegangen vor über 100 Jahren, der fast nicht mehr als Schiff zu erkennen ist. Worin besteht die Faszination dieses Wracks der „Titanic“?

Die große Faszination der Geschichte der „Titanic“ liegt darin, dass sie so wahnsinnig viele Facetten hat. Die Leistung des Ingenieurswesens, das größte Schiff der Welt zu bauen, die Gegensätze an Bord, wo Arm und Reich an einem Ort sind. Natürlich auch die Dramatik des Untergangs, mit ihren vielen Geschichten von Helden, bei denen man sich fragen kann: Wie hätte ich entschieden? Hätte ich versucht, ins Boot zu kommen, oder wäre ich ein Gentleman gewesen und hätte anderen den Vortritt gelassen? Zur Faszination gehört auch, dass sie wirklich noch existiert, dass sie da echt liegt. Ich glaube, das bringt uns die Tragödie einfach noch näher.

Viele Menschen sahen in der Katastrophe die Strafe für menschliche Vermessenheit. Man sagte damals, das Schiff sei „unsinkbar“.

Ich habe mit dem Unsinkbar-Begriff ein Problem, weil „unsinkbar“ damals nicht das bedeutete, was wir uns heute vorstellen. Nämlich eine Werbebotschaft, die einfach behauptet, etwas könne nicht sinken. Es war ein technischer Begriff, und wenn man gewisse Bedingungen wie etwa Sicherheitsmaßnahmen erfüllt hatte, dann konnte man sein Schiff „unsinkbar“ nennen. Das galt aber nicht nur für die „Titanic“. Die Vorstellung war nicht, dass ein Schiff nicht sinken kann. Es war einfach ein solches Sicherheitsniveau erreicht, dass es sehr unwahrscheinlich wurde. Eben dadurch, dass man einen doppelten Boden und der Rumpf Segmente hatte. Wenn eins vollläuft, ist es kein Problem, und wenn zwei volllaufen, noch immer nicht. Und auch ein Frontal-Crash hätte das Schiff nicht sinken lassen.

Also war‘s eine Verkettung von allem, was schiefgehen kann?

Bei Kernkraftwerken gibt es den GAU, den größten anzunehmenden Unfall. Für diese Kategorie hätten die Vorkehrungen noch genügt. Doch den Eisberg zu streifen, war der Super-GAU. Es war mehr als der größte anzunehmende Unfall, mehr als man erwarten konnte. Also dieses „unsinkbar“ wörtlich zu nehmen – so doof waren die damals nicht.

Mir ist außer der „Wasa“ kein Schiff bekannt, das so schnell unterging. Die „Titanic“ war keine zwei Wochen im Dienst.

Schon, ja. Eigentlich hätte die Schwester viel mehr Aufmerksamkeit verdient.

Die „Olympic“?

Ja, die ist durchgefahren, bis man sie nicht mehr gebraucht hat, bis 1936 oder 1937. Sie war einfach ein zuverlässiges, freundliches Arbeitspferd. Doch der Mensch fühlt sich zum Ungewöhnlichen, zum Dramatischen hingezogen. Und damit verschwindet ein Schiff, das einfach nur funktioniert, schneller aus unserem Gedächtnis als etwas, wo es großes Drama gab.

Sie waren ja selber in den Tiefen des Atlantik und haben sich das Wrack aus nächster Nähe angesehen. Ist das gruselig? Oder faszinierend?

Gruselig ist es nicht. Die Vorstellung, dass da was Unschönes sein könnte, kam erst mit dem Unfall der „Titan“ vor zwei Jahren auf. Also ich habe mich damals wahnsinnig gefreut, konnte es gar nicht glauben. Das war für mich wie ein Lotto-Gewinn, dass ich als Studentin da mitdurfte. Es war zwar nicht so teuer wie in den vergangenen Jahren. Aber es war eigentlich immer noch unerreichbar. So ist man ist dann hin und her gerissen zwischen Indiana Jones und ehrfürchtigem Staunen. Es gibt Momente, in denen ist man sehr berührt. Etwa, wenn man einen Gegenstand sieht und dann das Gefühl hat, man sei gerade den Menschen damals näher gekommen. Also: Es ist „wow“ und dann „mein Gott!“, dann wieder „wow“, und wieder „mein Gott!“

Was haben Sie sich gedacht, als Sie dann die Nachrichten vom Unfall der „Titan“ gehört haben?

Wir hatten am ersten Tag schon mit Leuten diskutiert, die sich auch ein bisschen auskennen. Und bereits da waren wir zu der Erkenntnis gekommen, dass es wahrscheinlich schon vorbei ist. Dass die Passagiere schon tot sind. Als dann die Nachricht von den angeblichen menschgemachten Klopfgeräuschen kam, habe ich meine Einschätzung, wieder ein Stück revidiert. Das Wunder, sollte es tatsächlich möglich sein? Wir haben dann mitgefiebert, bis zu dem Tag, als der Tauchroboter am Meeresboden die Trümmerteile der „Titan“ gefunden hat. Und das hat schon ziemlich viel verändert.

In welche Richtung?

Vorher war ein Tauchgang zur „Titanic“ etwas Schönes, etwas, was jeden interessiert hat. Danach war es so, dass dich die Leute fragen: Echt, so was Gefährliches hast du gemacht? Ich habe sogar E-Mails bekommen, in denen ich gefragt wurde, wie ich mich derart verantwortungslos in so ein absurdes Abenteuer habe stürzen können. Es war ein anderes Tauchboot, eine andere Zeit. Meinem Tauchboot hatte zuvor auch nie irgendwie was gefehlt. Was ein Tauchgang zur „Titanic“ bedeutet, hat sich durch die Implosion der „Titan“ komplett verschoben.

Sie sind stellvertretende Vorsitzende des Schweizer „Titanic“-Vereins. Ich bringe die Schweiz mit vielem in Verbindung, aber nicht gerade mit Seefahrt.

Das kam so, dass mich der Schweizer „Titanic“-Verein nach meinem Tauchgang kontaktiert hat. Die sind sehr umtriebig. Es ist einer der größten „Titanic“-Vereine weltweit. Die „Titanic“ und die Schweiz, das ist erst mal eine komische Verbindung, könnte man meinen. Aber die Schweiz hat einen sehr guten Ruf in der Gastronomie, wie auch die „Titanic“ mit ihrem A-la-carte-Restaurant. Da hat man gerne Personal aus der Schweiz genommen. Außerdem war die Schweiz, insbesondere Basel, damals ein Drehkreuz für Auswanderer. Das funktionierte damals so, dass man sein komplettes Geld einem Reiseagenten in die Hand drückte und der einem den Weg in die USA bahnte. Wenn man da einem Betrüger aufsaß, dann war die Zukunft ruiniert. Die Schweizer Reiseagenturen hatten dagegen einen hervorragenden Ruf. Die haben auch wirklich den ganzen Weg bis in die USA begleitet. Deswegen sind sehr, sehr viele Schicksale von Auswanderern und damit auch von Leuten auf der „Titanic“ über die Schweiz gelaufen.

Wenn Sie an Bord der „Titanic“ einchecken würden: Wären Sie lieber im G-Deck, also mit Leonardo Di Caprio bei den armen Auswanderern? Oder weiter oben bei den Millionären?

Das hängt weniger an Leonardo Di Caprio. Ich würde nach Sicherheit entscheiden. Wenn man überleben will, muss man in ein Rettungsboot gelangen. Und daher wäre ich lieber in der zweiten oder in der ersten Klasse untergebracht. Weil der Zugang zu den Rettungsbooten dort einfacher war. Die offenen Decks, auf denen die Boote standen, gehörten zur ersten und zur zweiten Klasse.

Die dritte Klasse musste in dieser turbulenten Nacht, ohne eine Einschätzung, wie gefährlich die Lage schon war, überhaupt erstmal in die anderen Klassenbereiche gelangen, um eine Chance zu haben.

Würden Sie den Atlantik lieber im schnellen Flugzeug oder etwas so prächtigem wie der „Titanic“ überqueren?

Wir sind eine hektische Gesellschaft, meistens unter Zeitdruck. Dann ist das Flugzeug natürlich erste Wahl. Ich habe aber die Transatlantik-Route auch mal mit der „Queen Elizabeth“ gemacht. Das war sehr schön. Ich bin wahnsinnig gerne auf See, weil man in einem komplett eigenen Universum ist. Alles, was an Land ist, ist nicht mehr so wichtig. Man hat einen eigenen Rhythmus, man kommt runter, weil eben nicht ständig irgendwo irgendwas ist. Das ist mit den neuen Spaßkreuzfahrtschiffen ein bisschen anders. Aber die grundsätzliche Idee, dass man einfach mal fünf Tage seine Ruhe hat: Das hat was.

Zeit sollte man sich auch für einen Besuch der Ausstellung im Lokschuppen nehmen. Was fasziniert Sie da persönlich besonders?

Es gibt zwei Gegenstände, die wahnsinnig interessant sind, originale Gegenstände von der „Titanic“. Das eine ist die Taschenuhr von einem Schweizer Auswanderer namens Albert Wirtz. Er starb damals, und die Uhr wurde mit seiner Leiche zusammen geborgen. Sie zeigt auf den ersten Blick eine ganz normale Uhrzeit, jedenfalls nicht die Untergangsuhrzeit von 2.20 Uhr. Aber wenn man die Zeit umrechnet in Zürcher Zeit, dann ist es genau der Zeitpunkt des Untergangs. Und das ist so ein eingefrorener Moment der Geschichte. Der zweite Gegenstand ist sozusagen das positive Pendant dazu: eine originale Rettungsweste, vermutlich von Sir Cosmo Duff-Gordon getragen. Er und seine Frau, sie war Souvenirjägerin, haben nach der Rettung tatsächlich ihre Rettungswesten mitgenommen. Auch damit kann man per Kopfkino eine komplette Geschichte nachvollziehen. Ich glaube, da kriegt jeder ein bisschen Gänsehaut.

Wird in 20, 25 Jahren da noch was sehen sein? Oder ist das Wrack dann zusammengebröselt?

Die „Titanic“ wird anders aussehen. Ihr Wrack kann man mit einem Wal vergleichen. Mit einem Gerippe, also den Bodenplatten und den Spanten. Und die sind sehr solide gemacht. Auch die Maschinen sind sehr solide. Die werden nicht in den nächsten 20 Jahre wegrosten.

Die zarteren Teile, das sind die Decksaufbauten, insbesondere die, die oberhalb der Wasserlinie waren. Die sind in Leichtbauweise gefertigt. Das Dach des oberen Decks zum Beispiel fängt schon an zu krümeln. Da sieht man Löcher, Aufbauten brechen zusammen. Von den nicht so dicken Metallteilen wird immer mehr wegrosten.

Danach wird noch lange so etwas wie ein Skelett auf dem Meeresboden erkennbar sein, mit den Spanten, den Maschinen, den Heizkesseln. Das hält dann schon noch 100 Jahre oder länger. Aber dann sieht es halt nicht mehr aus wie das Schiff „Titanic“, sondern – das ist nicht despektierlich gemeint – wie ein Schrotthaufen.

Interview: Michael Weiser

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