Eindringlicher Appell an E-Bike-Fahrer

von Redaktion

Eine 87-jährige Pedelec-Fahrerin ist nach einem Sturz bei Staudach-Egerndach gestorben – und sie ist kein Einzelfall. Chefärzte aus dem Klinikum Traunstein schlagen Alarm und vergleichen die Verletzungen teils mit denen von Motorradunfällen. Warum Blutverdünner für Senioren zur tödlichen Falle werden können, das Präventions-Angebot dagegen aber kläglich scheiterte.

Traunstein/Staudach-Egerndach – Es ist die weit mehr als traurige Folge eines alarmierenden Trends: Eine 87-jährige Pedelec-Fahrerin, die am 19. August bei Staudach-Egerndach schwer gestürzt war, ist im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen. Wie die Polizei mitteilte, verstarb die Frau am 31. August. Ihr Tod markiert den tragischen Höhepunkt der jüngsten Unfallserie. Doch was geschieht nach einem solchen Sturz? Und wie können sie im Idealfall vielleicht sogar verhindert werden? Die OVB-Heimatzeitungen haben bei Rettern, Notärzten und Unfallchirurgen nachgefragt.

An der Unfallstelle:
Die Konfrontation
mit dem Trauma

Wenn der Notruf eingeht, sind sie die Ersten vor Ort: die Einsatzkräfte des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK). Sie sind mit einer harten Realität konfrontiert. „Allgemein bei Fahrradunfällen kommt es häufig zu Kopfverletzungen“, teilt die Pressestelle des BRK Traunstein mit.

Dabei machen die Sanitäter und Notärzte eine ebenso simple wie tragische Beobachtung: „Oft wird der Helm zwar mitgeführt, aber nicht getragen.“

Ein schwerer oder gar tödlicher Unfall hinterlässt zudem nicht nur beim Opfer oder dessen Angehörigen tiefe Spuren. Er löst eine Welle des Traumas aus, die Ersthelfer, Zeugen und selbst die erfahrensten Profis erfasst. „Besonders schwere und tödliche Verletzungen hinterlassen bei jeder Einsatzkraft emotionale Spuren in unterschiedlicher Ausprägung“, so Jakob Goëss, Leiter des Rettungsdienstes beim BRK Traunstein. Die psychische Belastung sei so enorm, dass für das Personal rund um die Uhr ein speziell geschultes Team der Psychosozialen Notfallversorgung zur Verfügung stehe. Vom Unfallort geht es für die Verletzten in der Region meist direkt ins Klinikum Traunstein, eines der größten überregionalen Traumazentren.

Was die Ärzte hier sehen, bestätigt den bayernweiten Trend auf dramatische Weise. „Deutschlandweit verzeichnen die Ärztinnen und Ärzte in den Notaufnahmen einen deutlichen Anstieg von Pedelec-Unfällen“, sagt Dr. Maximilian Seissiger, Leitender Oberarzt der Zentralen Notaufnahme. Laut Statistischem Bundesamt sei die Zahl der Unfälle mit Personenschaden von 2200 im Jahr 2014 auf rund 23900 im Jahr 2023 explodiert, so der Mediziner weiter.

Die Schwere der Verletzungen ist es, die den erfahrenen Ärzten die größten Sorgen bereitet. Prof. Dr. Kolja Gelse, Chefarzt der Unfallchirurgie, zieht einen schockierenden Vergleich: „Das Verletzungsbild ist sehr vielfältig und ähnlich wie bei Motorradunfällen, da die Geschwindigkeit oft über 40 km/h liegt.“ Der Grund ist die hohe Aufprallenergie eines schweren Rades in Kombination mit hoher Geschwindigkeit. „Fahrer oder Fahrerin tragen keine Schutzkleidung wie beim Motorrad. Auch der Helm ist nicht so stabil wie beim Motorradfahrer“, erklärt Prof. Gelse. Die Folge seien oft schwerste, polytraumatisierte Patienten mit Verletzungen an Schädel, Wirbelsäule und Extremitäten.

Für die Ärzte in der Notaufnahme ist die Frage nach dem Helm keine Meinung, sondern eine Frage messbarer medizinischer Fakten. „Das Tragen eines Helms macht bei einem Pedelec-Unfall einen klar messbaren Unterschied bei Verletzungsmuster und -schwere“, betont Notaufnahme-Arzt Dr. Seissiger mit Nachdruck. Klinische Studien würden beweisen, dass Helmträger signifikant seltener schwere Schädel-Hirn-Traumata erleiden. „Insbesondere intrakranielle Blutungen, Frakturen der Schädelkalotte und schwere Gesichtsschädelfrakturen treten bei Helmträgern deutlich seltener auf“, so Seissiger.

Die Belastung für die Traunsteiner Spezialisten wird durch eine regionale Besonderheit zusätzlich erhöht, wie Priv.-Doz. Dr. Tom-Philipp Zucker, Ärztlicher Leiter des Klinikums, aufzeigt. Der Grund: „Unser Einzugsgebiet geht durch die Stationierung des Rettungshubschraubers Christoph 14 weit über unsere Landkreisgrenzen hinaus.“ Die Klinik versorge so im Vergleich zum Bundesdurchschnitt der Traumazentren doppelt so viele Motorradunfälle und um ein Drittel mehr Fahrradunfälle. Mehr Pedelec-Unfälle treffen also auf ein System, das bereits durch die hohe Zahl an Zweirad- und andere Verkehrs-Traumata stark gefordert ist.

Der Tod der 87-jährigen Seniorin zeigt, warum gerade ältere Menschen so gefährdet sind. „Das Klinikum Traunstein ist ein zertifiziertes Zentrum für Alterstraumatologie. Wir sind auf die Traumaversorgung von älteren Menschen besonders eingestellt.“ Doch nichtsdestoweniger, Dr. Zucker erklärt die medizinischen Hintergründe: „Ein hoher Anteil von Menschen jenseits des 65. Lebensjahres nimmt aufgrund von Herz- und Gefäßerkrankungen Blutverdünner ein. Die Folgen der beeinträchtigten Blutgerinnung, gerade bei Schädel-Hirn-Verletzungen, können desaströs sein“, warnt der Chefarzt der Intensivmedizin. Angesichts dieser Fakten drängt sich die Frage nach Prävention auf. Die naheliegendste Lösung wären Fahrsicherheitstrainings. Doch die Realität im Landkreis Traunstein ist ernüchternd, wie Johann Bohnert, Vorsitzender der Verkehrswacht Traunstein, berichtet.

„Wir haben das vor einigen Jahren versucht anzubieten, aber die Nachfrage war null, also null komma null. Kein Einziger hat nachgefragt“, so Bohnert. Daraufhin habe man die Kurse wieder eingestellt. Die Verkehrswacht verfolgt nun eine andere, niederschwelligere Strategie. „Wir gehen dorthin, wo die Leute sind“, erklärt Bohnert und meint damit Infostände bei verkaufsoffenen Sonntagen oder der Gewerbeschau Truna. Die erste Reaktion der Besucher sei oft bezeichnend: „Viele meinen, das Radl ist zum Verkaufen da und fragen nach dem Preis“, schmunzelt er. Doch genau das sei der Eisbrecher. In den anschließenden Gesprächen über die verschiedenen Motortypen und das Fahrverhalten gelinge es oft, ein Bewusstsein für die Gefahren zu schaffen.

Physikalische
Anforderungen
beachten

Aus seiner 40-jährigen Erfahrung als Polizist kennt Johann Bohnert die Zielgruppe genau. Er beobachtet ein zentrales Dilemma: Das Pedelec gebe oft jenen Menschen ihre Mobilität zurück, die mit einem normalen Rad gar nicht mehr fahren würden und ohnehin „nicht mehr so sicher auf den Füßen“ seien. Genau diese Wiedereinsteiger, so Bohnerts Analyse, würden die neuen physikalischen Anforderungen – höheres Gewicht, stärkere Beschleunigung und ein schwierigeres Handling bei Ausweichmanövern – am meisten unterschätzen. Daraus leitet Bohnert einen ebenso simplen wie dringenden Rat ab: Üben, bevor man sich in den Verkehr wagt. „Man müsste tatsächlich mit dem Radl, sobald man es gekriegt hat, einmal irgendwo auf einem leeren Parkplatz üben“, fordert der Experte.

Der einstimmige Appell aller Experten ist daher unmissverständlich: das eigene Können nicht überschätzen, die Technik des neuen Rades auf sicherem Terrain ausgiebig testen und – immer – einen Helm tragen.

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