Warum wurde sie getötet?

von Redaktion

„Lauter kleine Puzzleteile“: Helene L. sichtet in Gabersee die NS-Akte ihrer ermordeten Großmutter

Wasserburg – Die Zeit des Nationalsozialismus ist wohl das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Für Helene L. ist es auch ein sehr persönliches: Seit über zehn Jahren recherchiert sie über die Ermordung ihrer Großmutter Therese Mühlberger, die im Rahmen der „T4-Aktion“ in der Gaskammer in Hartheim ums Leben kam.

Die „Aktion T4“ war der Deckname für die systematische Ermordung von Kranken und Menschen mit Behinderung im Nationalsozialismus. „Von 1940 bis 1945 wurden in Deutschland und Teilen des besetzten Europas an die 300000 als behindert und psychisch krank eingestufte Menschen ermordet“, wie auf der Webseite des Informations- und Gedenkportals für die Aktion „T4“ mitgeteilt wird.

Heirat im
Jahr 1925

Über das Leben ihrer Großmutter hat Helene L. schon Einiges herausgefunden: 1898 in der Nähe von Unterwössen geboren, muss Therese Mühlberger eine tüchtige Frau gewesen sein. Sie wuchs auf dem elterlichen Hof auf, machte, wie damals üblich, nach sieben Schuljahren ihren Abschluss und arbeitete anschließend in dem damals noch existierenden Krankenhaus in Reit im Winkl als Hausmädchen. Sie kehrte nach Reit im Winkl zurück, arbeitete als Pflegerin und absolvierte schließlich einen Hebammenkurs. 1925 heiratete sie Stefan Mühlberger, einen Holzarbeiter.

Ausfallerscheinungen
werden deutlich

Nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester und Hebamme sowie ihrer Zeit als Ordensschwester heiratete Therese Mühlberger und bekam schließlich eine Tochter, Helene L.’s Mutter. Ab 1932 folgte dann das schwere Schicksal von Therese Mühlberger. Sie wurde krank, es kam zu demenz-ähnlichen Ausfallerscheinungen, bis sie schließlich im August 1933, im Alter von 35 Jahren, in die Heil- und Pflegeanstalt Gabersee eingewiesen wurde. Für die Familie zu Hause ein harter Schlag. Ehemann Stefan Mühlberger blieb verzweifelt mit seiner siebenjährigen Tochter zurück.

Sieben Jahre verbrachte Therese Mühlberger in Gabersee. Die Krankenakte aus dieser Zeit liest sich, so erzählt es die Enkelin, „sehr entwürdigend“. Die Berichte, die jedes Quartal geschrieben wurden, handelten davon, dass Therese Mühlberger „verblödet“ sei, sie sei „unrein“ und müsse zum Toilettengang aufgefordert werden.

Letzter Eintrag im
September 1940

Die letzte Eintragung ist auf September 1940 datiert. Am 7. November 1940 wurde Therese Mühlberger dann von Gabersee in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert. Wahrscheinlich am selben Tag oder wenige Tage später wurde Therese Mühlberger dort in der Gaskammer ermordet.

All das hat Helene L. über ihre Großmutter bereits herausgefunden. Nun gab es im kbo-Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg im Rahmen einer Akteneinsicht mit Bezirksarchivar Nikolaus Braun und Oberarzt der Allgemeinpsychiatrie, Dr. Benedikt Ehlich, für Helene L. die Gelegenheit, noch einen weiteren Teil der Geschichte ihrer Oma zu ergründen. Denn das Klinikum hat rund 10000 Patientenakten in seinem Archiv, davon rund 400 Stück von Patienten, die während der NS-Zeit im Rahmen der „T4-Aktion“ deportiert und ermordet wurden – darunter die von Therese Mühlberger. Sie ist eines von 508 Opfern aus Gabersee, die in dieser Zeit umgebracht wurden.

Die gesamte Krankenakte von Therese Mühlberger wird auch im Rahmen dieser Berichterstattung nicht veröffentlicht, da „die ärztliche Schweigepflicht über den Tod hinausgeht“, erklärte Ehlich bei der Einsicht. Aber: Wenn „persönliches, berechtigtes Interesse“ vorliege, wie im speziellen Fall von Therese Mühlberger, sei das Klinikum bereit, der Enkeltochter eine Kopie auszuhändigen. Gespannt zieht Helene L. die Akte zu sich, während der Bezirksarchivar mit ihr die ersten Seiten durchgeht.

Vorhergehende
Erkrankung

Es wird jedoch bald deutlich, dass die neue Akte Helene L. wenig neue Einsichten verschafft. Dass ihre Großmutter neurologische Ausfälle aufgrund einer vorhergehenden, vermutlich unentdeckten Neurolues-Erkrankung hatte, wusste L. bereits. Diese sei eine seltene Komplikation der Syphilis, bei der der Erreger das Nervensystem befalle und zu verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Symptomen führen könne, so Ehlich. Aus Therese Mühlbergers Unterlagen geht hervor, dass die Ärzte sie einer sogenannten Malariatherapie unterzogen hatten. „Dabei wurden Patienten absichtlich mit Malaria infiziert, um Fieberschübe zu erzeugen“, erklärt der Arzt.

Vor der Entdeckung von Antibiotika sei dies die einzig wirksame Therapie bei „progressiver Paralyse“, einem Spätstadium der Neurolues, gewesen. „Das war der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.“ Eine solche Erkrankung sei ähnlich wie Lyme-Borreliose, erklärt Ehlich. Viele hätten erst nach Jahren Beschwerden.

Die Folgen einer unbehandelten Neurolues seien gravierend. Es kann zu fortschreitenden Nerven- und/ oder Organschäden kommen. Es könne sich auch eine fortschreitende Lähmung entwickeln, die von der Gesichtsmuskulatur bis zur vollständigen Bewegungsunfähigkeit reicht, erklärt der Arzt.

Für Helene L. bleibt es eines der Rätsel, das sie vermutlich nie herausfinden wird: „Wusste meine Großmutter von ihrer Erkrankung – oder nicht?“ Die Familie erklärte sich die Infektion von Therese Mühlberger mit ihrer damaligen Tätigkeit als Hebamme. Dabei müsse sie sich angesteckt haben, so die Überzeugung der Angehörigen, schildert Helene L.

Therese Mühlberger war mit dieser Erkrankung damals „eine von vielen“, erklärt der Arzt. Etwa ein Drittel der chronisch psychisch Kranken in den Heilanstalten sei zu dieser Zeit davon betroffen gewesen. „Sie war definitiv kein Einzelfall, denn es gab keine Möglichkeit, die betroffenen Patienten zu therapieren“, so der Experte. Heutzutage sei die Neurolues dank Antibiotika ein beinahe verschwundenes Krankheitsbild, erklärt Ehlich.

Als „verblödet“
beschrieben

In der Krankenakte, die im Archiv des kbo-Inn-Salzach-Klinikums liegt, wird die Patientin ebenfalls mit „verblödet“ beschrieben. Es heißt: „Rechnet sehr schlecht, bringt keinen richtigen Satz zustande“. Ehlich weist aber auf den historischen Kontext der Bezeichnung „verblödet“ hin. „Heutzutage ist das sehr herabwürdigend, zu dieser Zeit wurde dieser Terminus von Ärzten ganz selbstverständlich verwendet“, erklärt er.

Neu ist für die Enkeltochter, dass ihre Großmutter eine Körpergröße von 1,53 Metern hatte. „Damals war sie mittelgroß, aus heutiger Sicht ist das natürlich recht klein“, sagt sie. Weiter geht aus der Gaberseer Krankenakte hervor, dass Therese Mühlberger zum „Karrenziehen“, also zum Transportdienst in der Heil- und Pflegeanstalt eingeteilt worden war, weswegen auf einer Karteikarte „Personal-Beschreibung“ vermerkt gewesen war. Diese Bezeichnung erhielt Therese Mühlberger, weil sie in der Pflegeanstalt mitgearbeitet hatte. Sie sei also vermutlich zu diesem Zeitpunkt arbeitsfähig gewesen. „Hätte sie also überleben können?“, fragt sich Helene L.

Wertungen
gehen auseinander

Diese Frage kann ihr niemand beantworten. „Hier gehen die Wertungen von Experten auseinander“, erklärt Bezirksarchivar Braun. Die Kategorisierung der Ärzte, ob ein Patient am Leben blieb oder nicht, lief bei der „Aktion T4“ anders ab als zum Beispiel im Konzentrationslager in Auschwitz. Im KZ seien die Gefangenen als „arbeitsfähig“ und „nicht arbeitsfähig“ eingestuft worden. Wer arbeiten konnte, durfte weiterleben, aber „Ältere, Frauen und Kinder wurden oft direkt in die Gaskammer geschickt“, erklärt Braun. Bei der Aktion „T4“ sei es das zentrale Ziel der Nazis gewesen, „lebensunwertes Leben“ auszurotten, egal ob „arbeitsfähig“ oder nicht. Was bei der Akteneinsicht noch zur Sprache kam, war der berühmte „Meldebogen“ von Therese Mühlberger. Er enthält die Angabe des letzten Besuchs ihres Ehemannes am 1. Mai 1940. „Ich finde den Gedanken beruhigend, dass mein Opa sie nach so langer Zeit nicht im Stich gelassen hat“, meint die Enkeltochter.

Nachträglicher
Eintrag?

„Andererseits lässt mich der Abdruck auf der Rückseite des Meldebogens an der Aussage zweifeln: Diese Information wurde später eingefügt, aber warum?“, fragt sich Helene L. „Vielleicht wollte jemand einer vergessenen Patientin mit einem erfundenen Besuchsdatum etwas Gutes tun, sie schützen vor der Deportation?“, mutmaßt sie. Der Bezirksarchivar sehe aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass so gehandelt worden sein könnte. Er hält die Eintragung für echt und plausibel: „Die Pfleger haben alle Besuche ihrer Schützlinge akribisch notiert“, so Braun.

Für Helene L. ist die Aufarbeitung und das Zusammentragen der Dokumente über die Zeit ihrer Großmutter in der Heil- und Pflegeanstalt „nötig“. „Es sind lauter kleine Puzzleteile“, erklärt sie. Obwohl manche Lücken vermutlich nie gefüllt werden könnten, habe sie nach zehn Jahren Recherche doch ein recht gutes Bild ihrer Großmutter erhalten – und das, obwohl sie sie nie kennenlernen durfte.

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