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Warum steigt der Bedarf?
Wir haben in allen Medien inzwischen eine Offenheit gegenüber psychischen Störungen. Man wird deswegen nicht mehr diskriminiert, wie das früher war. Es ist kein Stigma mehr, eine Depression zu haben. Und viel mehr Menschen als früher sind offen dafür, sich Behandlungen zu suchen, wenn sie sie brauchen.
Das war vor 30 Jahren anders. Da musste man in gewisser Weise heimlich zum Therapeuten gehen. Jetzt haben wir eine Offenheit, über seine Probleme zu sprechen und zu Lösungen zu kommen. Das ist sicherlich eine gute Entwicklung. Aber das führt natürlich dazu, dass wir mehr Bedarf an Behandlungsplätzen haben als das noch bei der Einführung der sogenannten Bedarfsplanung war.
Wie viele Therapeuten fehlen denn?
Das kann man schlecht so konkret sagen. Wir bräuchten auf jeden Fall mehr. Frau Prof. Sundmacher von der Universität München hat mit Kollegen im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses im Jahr 2018 sehr systematisch ermittelt, wie viele Ärzte und Psychotherapeuten nötig wären, wenn man sich ernsthaft am Bedarf orientiert, welchen man zum Beispiel anhand der Krankheitshäufigkeiten messen kann. Für den Bereich Psychotherapie kam sie auf rund 2400 zusätzlich erforderliche Psychotherapeuten (sogenannte „Sitze“), bundesweit.
Vom Gemeinsamen Bundesausschuss wurden aber anschließend nur 779 neue Sitze festgelegt.
Zu wenig?
Das ist natürlich deutlich zu wenig gewesen. Besonderen Mangel haben wir im Bereich Kinder und Jugendliche, wo seit der Pandemie leider viel mehr Bedarf entstanden ist, aber auch in ländlichen Regionen. Psychotherapeuten gibt es eigentlich genug, aber viele haben keine kassenärztliche Zulassung. Die Kollegen praktizieren dann in Privatpraxen oder arbeiten in angestellten Kontexten.
Es macht also bei der Wartezeit einen Unterschied, ob man gesetzlich oder privat versichert ist?
Die Bedarfsplanung regelt die sogenannten Kassensitze zur Behandlung von gesetzlich krankenversicherten Bürgern. Inzwischen gibt es viele private Praxen, die ohne Kassensitz Psychotherapie anbieten und dann meist keine gesetzlich versicherten Bürger behandeln können. Diese Therapeuten haben häufig schneller Plätze frei. Die Betroffenen müssen das selbst bezahlen. Für gesetzlich Versicherte gibt es aber doch noch eine Möglichkeit zur Therapie zu kommen, wenn sie akut erforderlich ist und kein (zugelassener) Therapeut gefunden werden kann. Wenn man diesen Umstand der Kasse erklären kann, dann ist sie eigentlich verpflichtet, auch eine Psychotherapie bei einem Psychotherapeuten ohne Kassensitz, also in einer Privatpraxis zu bezahlen. Viele Kassen machen das auch – mehr oder weniger widerwillig.
Macht es einen Unterschied, ob man zuerst zum Hausarzt geht oder gleich beim Psychotherapeuten anruft?
Formal macht es eigentlich keinen Unterschied. Aber der Hausarzt kann – ähnlich wie der Psychotherapeut in der Sprechstunde – über die Kassenärztliche Vereinigung einen Dringlichkeitscode vermitteln. Dann muss die KV besonders schnell einen Therapieplatz vermitteln. Viele Hausärzte sind auch erfahren im System und haben gute Kontakte zu Psychotherapeuten oder Psychiatern. Wenn ein Patient kommt und ein dringliches Problem hat, können sie womöglich in manchen Fällen auch unmittelbar einen Therapieplatz vermitteln, indem sie an diesen Kontakt vermitteln. Sowas wird aber rein zahlenmäßig sicher nur sehr selten möglich sein. Insgesamt bleibt nur die Wahl, dass Betroffene direkt bei Psychotherapeuten nach freien Terminen fragen. Von der Bundespsychotherapeutenkammer gibt es auch die Broschüre und Website „Wege zur Psychotherapie“, welche durch den „Dschungel der Therapeutensuche“ führt.
Und welche Optionen bleiben, wenn kein Termin so schnell hergeht?
Wir haben in Bayern Krisendienste, bei denen man rund um die Uhr anrufen kann. Dort sitzen Therapeuten und können die Anrufer direkt beraten – besonders in akuten Krisen. Dort kann man auch zwei, drei oder fünfmal anrufen. Jeder Psychiater hat zudem eine offene Sprechstunde, in die man – eventuell mit Wartezeit im Wartezimmer – gehen kann. Und eine psychiatrische Klinik muss einen Patienten stationär aufnehmen, wenn es nicht anders geht. Die Kliniken haben zudem – allerdings auch mit Wartezeiten – ambulante Termine, das sind oft nur kurze Gesprächstermine, aber immerhin. Wichtig, entlastend und hilfreich ist es oft schon, überhaupt einen Gesprächspartner zu haben, solange, bis eine Psychotherapie möglich ist.
Gibt es noch weitere Überbrückungsmöglichkeiten bis zur ersten Therapiestunde?
Es gibt auch sozialpsychiatrische Dienste, wo man Termine bekommen kann. Eine andere Anlaufstelle kann genauso der Hausarzt oder eben die Telefonseelsorge sein, wenn einem das Wasser sozusagen bis zum Hals steht. Und es gibt Selbsthilfegruppen. Die sind, wie die anderen Vorschläge auch, zwar eigentlich nicht als Therapieersatz gedacht und sie funktionieren auch nicht so, aber oft ist das Aussprechen von Problemen und sich Austauschen mit Gleichbetroffenen schon eine gewisse Hilfe und Entlastung.
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Interview:Julian Baumeister