Rosenheim – Nun ist sie frei und offen, die Westtangente. Der Eröffnungsfeier am vergangenen Mittwoch folgte die technische Freigabe am gestrigen Donnerstag. Und Landrat Otto Lederer wie auch Rosenheims Oberbürgermeister Andreas März könnten nach den Worten von Ministerpräsident Markus Söder auf der neuen Umgehungsstraße auf und ab fahren, „bis der Gummi von den Autoreifen fällt.“
Das freilich ist nicht der vordringliche Zweck der 11,3 Kilometer langen Straße mit ihren 20 Brücken, die doch Rosenheim, Großkarolinenfeld und Kolbermoor vom Durchgangsverkehr entlasten und den Norden des Landkreises besser an die Salzburger Autobahn anbinden soll. Jedenfalls waren sich die Redner bei der Eröffnungsfeier für den letzten Teilabschnitt von Wernhardsberg am Mittwoch einig: Die Westtangente ist ein Jahrhundertprojekt. Zeit für einen kurzen Überblick mit kuriosen und interessanten Fakten.
Die Kosten für Rosenheims Westtangente sind natürlich nicht mit den Kosten etwa für Hamburgs Elbphilharmonie zu vergleichen. Aber: Im Bundesverkehrswegeplan 2003 war die Umgehung noch mit 61,3 Millionen Euro veranschlagt worden. Am Ende belaufen sich die Kosten auf 269,5 Millionen Euro – mehr als das Vierfache der ursprünglichen Rechnung. Was vor allem am schwierigen Untergrund und den aufwendigen technischen Lösungen dafür lag.
Seeton ist ein
schlechter Untergrund
Im Hamburg kann man da nur lächeln: Bei der „Elphi“ wurde der Plan ums Elffache überzogen, von 77 auf 866 Millionen. Und dabei haben die Hamburger nur den See-Blick und nicht – wie die Rosenheimer – einen Seeton.
Seeton ist ein schlechter Untergrund für Großbauten. In der Umgebung von Rosenheim gibt es jede Menge davon, Folge seines eiszeitlichen Sees. Bei der Aicherparkbrücke und der Eisenbahnbrücke von Wernhardsberg wandten die Planer des Bauamts eine zusammen mit der Technischen Universität München entwickelte neuartige Methode an: die „Rosenheimer Mischgründung“. Sie ist Rosenheims Antwort auf schwierige Böden. Je nach Traglast der einzelnen Pfeiler versenkten die Arbeiter eine Vielzahl von Pfählen im schwammigen Untergrund, gemischt aus Tragepfählen, Drainagesäulen und Verdrängungssäulen. Und das mit einer Länge von bis zu 50 Metern. Darauf kamen die Fundamentplatten. Das kostete Zeit und Geld, verschafft Rosenheim aber einen bleibenden Ruf in den Lehrbüchern für Ingenieure. Und Stabilität: Die Brücke, die die Eisenbahn bei Wernhardsberg über die Westtangente führt, hat sich bislang nicht bewegt. „Nicht um einen Millimeter“, sagte Projektleiter Bernhard Gehrmann bei der Eröffnung. Gesetzt hat sich dagegen der Straßendamm unweit der Brücke: um 34 Zentimeter. Die Westtangente ist für Autos und Lkws gedacht. Die Planer hatten aber auch ein Herz für Fledermäuse: Sie bauten die Landwirtschafts- und Fußgängerbrücke südlich der Eisenbahnbrücke zur Überflughilfe für die Mopsfledermaus aus. Die hohen Seitenwände der Brücke dienen als Orientierung und als Windschutz für die nur sechs bis 13 Gramm schweren Säugetiere. So sind die Mopsfledermäuse vor Turbulenzen durch Lastwagen geschützt.
Naturschutz in Zusammenhang mit einer Straße? Das klingt einigermaßen widersprüchlich. Deswegen klagte seinerzeit der Bund Naturschutz gegen das Großprojekt. Vergebens. Dafür gibt es Ausgleichsflächen, die im Sinne einer Wiedergutmachung ökologisch aufgewertet werden. 19 Hektar kaufte das Bauamt für die Westtangente, um sie ökologisch aufzuwerten. Etwa als Lebensraum für Kiebitze. Dazu gibt es Tunnel und Unterquerungen für Wild und Reptilien. Naturschützer wenden ein, dass neue Straßen neuen Verkehr anziehen. Die Menschen in Rosenheim, Kolbermoor und Großkarolinenfeld werden hingegen weniger Staus erleben – das heißt weniger Lärm und weniger Luftverschmutzung. Auch das ist Umweltschutz.
Die Westtangente wurde so etwas wie der Verkehrsminister-Durchlauferhitzer: Als sie 2003 in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen wurde, war noch Manfred Stolpe von der SPD dran, danach sein Parteifreund Wolfgang Tiefensee. Begonnen wurde der Bau unter Peter Ramsauer, seine Nachfolger hießen Alexander Dobrindt, Andreas Scheuer und Christian Schmidt. Zumindest die ersten drei genannten CSU-Minister waren öfter da. Zu Spatenstichen, Teilfreigaben oder Info-Besuchen.
Den Weg nach Rosenheim nie gefunden hat Volker Wissing (FDP, dann parteilos). Den Weg nach Wernhardsberg gefunden hätte dagegen Ulrich Lange, Staatssekretär des aktuellen Ressortchefs Patrick Schnieder (CDU). Er war zur Eröffnung des Abschlussstücks eingeladen. Allein – Lange musste in Berlin bleiben. Genauso wie die Rosenheimer CSU-Abgeordnete Daniela Ludwig.
Riesige und kuriose Maschinen waren für die Westtangente im Einsatz. Allen voran die Universalstopfmaschine „Sabine“. Dahinter verbirgt sich ein 44 Meter langes und 169 Tonnen schweres Ungetüm, ein Spezialzug, der nach den Worten von Projektleiter Gehrmann „Schienen und Schwellen millimetergenau in die richtige Lage und Höhe bringt und die Gleisbettung verdichtet.“ Nötig war der Einsatz von „Sabine“ bei der Eisenbahn-Überführung bei Wernhardsberg. Nach dem Einschub der beiden Brückenteile mussten die Gleise der Bahn an Ort und Stelle gebracht und feinjustiert werden. Das klappte in einer Juni-Nacht 2025 reibungslos.
Söder schätzt
Brückentage
Eine „bayerische Golden Gate Bridge“ – so nannte Ministerpräsident Markus Söder eines der schwierigsten Stücke der Westtangente, die Aicherparkbrücke. Mit 670 Metern Länge ist sie die längste Brücke Bayerns an einer Bundes- oder Staatsstraße. Dabei hätte sie um ein Haar nicht gebaut werden können: Der Seeton-Untergrund war zu schwammig. Erst, als die Ingenieure in Zusammenarbeit mit der TU München die „Rosenheimer Mischgründung“ erfanden, konnte das Problem gelöst werden.
Markus Söder greift übrigens öfter zu US-amerikanischen Vergleichen: Vor der Golden Gate Bridge in den Aicherpark sah er sich bereits beim Technologiepark der TH an ein „oberbayerisches Harvard“ erinnert. Dass sich Politprominenz so häufig an eine Baustelle begibt, ist selten. Nicht nur diverse Bau- und Verkehrsminister waren da, sondern auch Ministerpräsident Markus Söder. Und das zweimal: einmal auf der Aicherparkbrücke, nun vor der Brücke bei Wernhardsberg.
Fazit: Der Ministerpräsident schätzt offenbar Brückentage.