Rosenheim – Es riecht nach frischer Farbe im hellen Sitzungssaal 21. Doch durch den kürzlich renovierten Raum wabern Lügen und Propaganda aus dunklen Zeiten. Staatsanwalt Thomas Wüst verliest die Anklage gegen Bernd F. (63): Volksverhetzung, Verwendung von Symbolen verfassungswidriger Organisationen. NS-Parolen, Hitler-Verherrlichung, Hetze und Hass habe F. so in seiner Telegram-Gruppe verbreitet. Dazu absurde Videos.
Bei vielen Gelegenheiten postete er Beiträge, in denen er vorgab, die Wahrheit über die deutsche Geschichte zu enthüllen: dass in den Konzentrationslagern nicht Juden, sondern deutsche Soldaten umgebracht worden seien und dass es den Holocaust nie gegeben habe.
Nonsens und
Propaganda
30, 35 Minuten lang geht das so, die Litanei der Straftaten ermüdet. Bernd F. ist diesmal von der Polizei vorgeführt worden. Zum ersten Termin war er einfach nicht erschienen. Jetzt sitzt er auf der Anklagebank, blickt unbewegt vor sich hin. Ist er mit den Gedanken bei den Worten des Staatsanwalts? Oder in seiner Parallelwelt, in der die Nazis die Guten sind und finstere Mächte Deutschlands Vernichtung anstreben?
59 Fälle von Volksverhetzung trägt der Ankläger vor, dazu hat Bernd F. zahllose Male SS-Runen, Hakenkreuze und andere Zeichen verfassungswidriger Organisationen in der Telegram-Gruppe gepostet. Also sichtbar für 1000 Mitglieder. Bernd F. schickte außerdem Drohbriefe an Mitarbeiter der Stadt Rosenheim und forderte zu Straftaten auf.
„King Ather reveals“, so hieß die Gruppe. Man wird Bernd F., der sich als gescheiterten Kaufmann, Erfinder, Dachdecker und Fensterputzer beschrieb, als diesen „King“ identifizieren dürfen, als Wortführer einer Community von Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern. Verteidiger Harald Baumgärtl tut sein Möglichstes, Bernd F. zumindest vor einer Freiheitsstrafe zu retten, mit Bewährung bei einem Strafmaß unter zwei Jahren. Doch ein Gespräch mit dem Ziel der Verständigung scheitert. Nach der Unterbrechung wird es wirr.
Wirre Angaben
zur Wahnwelt
Denn dann äußert sich Bernd F. selbst. Und erzählt, wie er in diese Wahnwelt gelangt sei. Es ist schwer, ihm zu folgen. Die Zuschauer im Amtsgericht bekommen mit, dass sich Bernd F. nicht planvoll in sein Wahnreich begeben haben will. 2019, im Herbst, sei es losgegangen. „Wow, das ist irre, warum gibt es da so viele Wahrheiten?“, habe er sich gedacht. Er habe dann auch Sachen gepostet, ohne zu prüfen, ob das alles stimme.
Bernd F. gibt sich hilflos. „Man ist überfordert, wenn man Tausende von Geschichten hört.“ So sei er immer weiter in diese Welt gezogen worden. „Das tut mir auch leid, und, ja, jetzt sitze ich hier“, stammelt er und lacht. Ob er immer noch an seine Verschwörungstheorien glaube, fragt Richterin Deborah Fries. „Nein, ne, Schluss, aus!“, antwortet der vorbestrafte 63-Jährige.
Auch die Schöffin will wissen, ob der Angeklagte seine Irrtümer eingesehen und auch anderen Mitgliedern der Telegram-Gruppe von seinen Einsichten berichtet habe. Aus der wortreichen Antwort von F. wird man nicht schlau. Der Staatsanwalt fragt, ob er die Telegram-Gruppe gegründet habe. „Ja, es haben so viele einen Kanal gegründet, da dachte ich mir, ich gründe auch einen Kanal.“ Irgendwann legt Richterin Fries die Stirn in Falten. Ob vor lauter Konzentration oder aus Ratlosigkeit – man weiß es nicht. Eine Zeugin vom Staatsschutz-Kommissariat spricht von einer „ungeheuren Datenmenge“, die nach der Razzia im Februar 2022 in Rosenheim zu sichten gewesen wäre. „Zwei Terabyte, damit könnte man zweieinhalb Jahre lang 24 Stunden pro Tag Musik hören.“
Bernd F. hetzte, das stellte sie fest, rassistisch und antisemitisch, äußerte sich im Reichsbürger-Jargon. So forderte er für Polizeibeamte als „Partisanen“ die standrechtliche Hinrichtung. Über 50000 Beiträge von Bernd F. habe sie entdeckt, Likes, Posts, Kommentare, geteilte Beiträge. Er sei tief verwurzelt in Verschwörungstheorien und sich seines Tuns bewusst, sagt die Zeugin.
Anklage: Hass gegen
Fremde und Juden
Von einer eindeutigen Beweislage spricht im Plädoyer Staatsanwalt Wüst, von „massiver Breitenwirkung“, von fremdenfeindlicher und antisemitischer Hetze par excellence. Beteuerungen des Umdenkens könne er ihm nicht abkaufen. Die Perspektive des in prekären Verhältnissen lebenden Angeklagten sei überdies schlecht. Er plädiert auf zwei Jahre und neun Monate Haft.
„Falsch abgebogen“
und „abgerutscht“?
Harald Baumgärtl betont, der Angeklagte sei, verführt von Parolen, an einem bestimmten Punkt „kurzzeitig falsch abgebogen“ und im Gewirr der widerstreitenden Meinungen in die Szene „gerutscht“. F. sei geständig. Es seien zudem Jahre ohne weitere Straftaten von Bernd F. ins Land gegangen. Sehr viel länger sogar seien zwei seiner Vorstrafen vergangen. Er nannte zwei Jahre, auszusetzen auf Bewährung, angemessen, auch weil der geplante Umzug zu seinem bodenständigen Bruder nach Aschaffenburg Bernd F. gute Perspektiven eröffne.
So gut fand Richterin Deborah Fries die Perspektive dann doch nicht. Sie blieb mit einer Haftstrafe von zwei Jahren deutlich unter der Forderung des Staatsanwalts. Aber sie gewährte dem Mandanten von Baumgärtl eben auch keine Bewährung.