Station „Jerwa“ wird geschlossen

von Redaktion

Schön Klinik Vogtareuth setzt Erwachsene mit Mehrfachbehinderung vor die Tür

Vogtareuth – Für Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen ist die stationäre medizinische Versorgung gesichert. Sobald sie erwachsen sind, sieht es anders aus. Jetzt wird auch an der Schön Klinik Vogtareuth eine deutschlandweit einzigartige Station geschlossen: „Jerwa“. Die Folgen sind verheerend. Die Schön Klinik will ihre Kernkompetenzen stärken: Die neurologische und neurochirurgische Behandlung von Kindern, die Kinderorthopädie und die stationäre Rehabilitation sollen als Herzstück der Klinik erhalten und weiter ausgebaut werden. Dafür wird neben anderen Fachabteilungen die Neurologie geschlossen. Die Versorgung von jungen Erwachsenen mit neurologischen-neuropädiatrischen Erkrankungen und ihren schwerwiegenden Folgen wird zum 31. Dezember eingestellt.

Versorgungsqualität
noch gewährleistet?

„Die Versorgungsqualität für die Bereiche, die wir künftig nicht mehr anbieten, ist im Landkreis Rosenheim gewährleistet“, betont Marcus Sommer, der Regionalgeschäftsführer Süd der Schön-Kliniken-Gruppe, in einer Presseerklärung. Doch Fakt ist: Die Fachabteilung für die neurologische Behandlung von jungen Erwachsenen (Jerwa) ist einzigartig. In der Region gibt es keine vergleichbaren Angebote. Deutschlandweit gehört „Jerwa“ zu nur zwei Fachabteilungen an Kliniken, die sich auf die Behandlung von jungen Erwachsenen mit schweren körperlichen und geistigen Behinderungen und deren Folgen spezialisiert haben.

1985 wurde eine
Lücke geschlossen

Die Schön Klinik in Vogtareuth wurde 1985 „als spezialisiertes Behandlungszentrum für die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit neurologischen Erkrankungen gegründet, um die Lücke im normalen Gesundheitssystem zu schließen und eine spezielle Expertise für den Freistaat Bayern anzubieten“, heißt es in der Historie der Schön Klinik. Das Fachzentrum für Neuropädiatrie und Kinderorthopädie entstand. Heute ist „Vogtareuth weit über die Grenzen Bayerns und Deutschlands hinaus für seine hochkomplexe medizinische Versorgung von Kindern bekannt“, betont Regionalgeschäftsführer Marcus Sommer.

2021 entstand Station
für junge Erwachsene

Doch mit Erreichen des 18. Lebensjahres endete die kinder- und jugendmedizinische Versorgung der Patienten. Mit dem Erwachsenwerden gab es für sie plötzlich keine bedürfnisgerechte stationäre Versorgung mehr. Für Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen ein existenzielles Problem.

Im Jahr 2021 hat die Klinik darauf reagiert, diese Versorgungslücke geschlossen und im Fachzentrum für Neurologie eine stationäre Abteilung für Patienten ab dem 18. Lebensjahr gegründet: „Jerwa“ – Medizin für junge Erwachsene mit neurologischen-neuropädiatrischen Erkrankungen und ihren Folgen. Zu „Jerwa“ gehört eine Normalstation mit barrierefreien Einzelzimmern, in denen die Patienten mit Behinderungen von ihren Angehörigen im Rooming-in begleitet werden können. Zudem gibt es eine Intermediate-Care-Station für Patienten mit akutmedizinischen Problemen.

Gebündelte
Fachkompetenz

Im Juni 2025 stellte sich die junge Abteilung „Jerwa“ im Ärzteblatt vor. „Wir bieten einen Hafen für diejenigen, die in den meisten Krankenhäusern nicht aufgenommen oder behandelt werden können“, beschreiben die Neurologen Dr. Andreas Weidmann und Dr. Judith Kamgang in einem Gastbeitrag, aus dem das OVB zitieren darf.

In den vergangenen vier Jahren ist in Vogtareuth ein Team gewachsen, das sich „jungen Erwachsenen mit schweren Behinderungssyndromen so annimmt, dass mit ethischen, medizinischen, praktischen, sozialen und psychologisch tragfähigen Lösungen ihre Gesundheit und Lebensqualität nachhaltig verbessert“ werden kann.

Durch die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit aller Fachabteilungen der Schön Klinik Vogtareuth war es möglich, die Patienten ganzheitlich zu betreuen. Hochspezialisierte Experten für Neurochirurgie, Neurologie, Neuropädiatrie, Neuro-Orthopädie, Epilepsie, Schmerztherapie, Intensivmedizin, Innere Medizin, Gefäß- und Herzchirurgie, Wirbelsäulenchirurgie, Orthopädie, Palliativmedizin, Urotherapie oder Logopädie arbeiten hier zusammen. „Unsere Arbeit bedeutet vor allem Palliative Care“, erklären die Experten im Ärzteblatt: „Manchmal sind wir kurativ unterwegs, oft rehabilitativ orientiert, immer wieder begleiten wir am Lebensende. Aber im Kern der Versorgung einer unheilbaren Krankheit, die ein Behinderungssyndrom nun einmal darstellt, muss unsere Fürsorge stets palliativ sein.“

Einmaliges Angebot
und große Nachfrage

Das einzigartige Angebot der „Jerwa“ hat sich in vier Jahren schnell herumgesprochen. In Deutschland leben 7,9 Millionen Menschen mit schweren Behinderungen, 1,2 Millionen davon in Bayern. Die „Jerwa“-Patienten kommen aus der ganzen Republik. Auf der Station mit zehn Betten wurden bislang etwa 140 Patienten pro Jahr behandelt. Die Nachfrage war und ist so groß, dass die Wartezeiten bei etwa sechs Monaten liegen und die Station selbst bei einer Verdopplung der Bettenzahl noch ausgelastet wäre.

Gute Versorgung
zahlt sich aus

Auch als Geschäftsmodell betrachtet, ist die ganzheitliche stationäre Behandlung von Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung lohnenswert. Sie finanziert sich über Fallpauschalen und Sondervergütungen für die spezialisierte und spezifische stationäre Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Im Ärzteblatt heißt es dazu: „Wir finanzieren unsere Arbeit und unser Team erfolgreich über das DRG-System. Wesentlicher Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitswesen und in unserer Klinik ist der Pragmatismus unserer Arbeit, die bedarfs- und bedürfnisgerechte Therapiebegrenzung mit expliziter Vermeidung von medizinischen Eskalationen, Langzeithospitalisierung und Überversorgung.“ Auf der „Jerwa“-Station und im Medizinischen Versorgungszentrum der Schön Klinik Vogtareuth fanden Menschen mit Behinderung und deren Angehörige oder Betreuer einen sicheren Hafen mit medizinischer Versorgung, Beratung und Lebenshilfe, den es sonst nirgendwo gibt.

Einzigartiges Projekt
endet am Jahresende

Am 31. Dezember 2025 wird die „Jerwa“-Station geschlossen, ebenso wie die Neurologie, die multimodale Schmerztherapie, die Neurochirurgie für Erwachsene, die Herz- und Gefäßchirurgie sowie die Hand-, die Plastische und die Brustchirurgie.

Tausende stationäre und ambulante Patienten verlieren in Vogtareuth ihr vertrautes medizinisches Umfeld, davon allein etwa 900 im Bereich des Fachzentrums für Neurologie. Und auch 200 hochqualifizierte Ärzte, Gesundheitspfleger und Therapeuten sind nun offenbar überflüssig. Sie verlieren ihre Jobs. Wie die Abteilungen abgewickelt werden sollen, ist noch nicht klar. Was aus den Patienten wird, steht in den Sternen. Die Schön Klinik Vogtareuth reißt eine Versorgungslücke auf, die sie erst vor vier Jahren geschlossen hat.

Mit der Entscheidung, die „Jerwa“-Station zu schließen, bringt sie perspektivisch aber auch die Familien in Not, deren Kinder mit neuropädiatrischen Erkrankungen sie im Zentrum für Neuropädiatrie behandelt. Bisher waren es 5000 kleine Patienten pro Jahr. Auch sie werden eines Tages erwachsen. In Vogtareuth gibt es für sie dann aber keinen Platz mehr.

Zurück in die
Erwachsenenmedizin

Für erwachsene Menschen mit Mehrfachbehinderung bedeutet die Umstrukturierung der Schön Klinik Vogtareuth: zurück auf Anfang. Sie müssen sich nun in der stationären Erwachsenenmedizin neue Ansprechpartner suchen. Doch nicht nur das. Auch ihre ambulante Betreuung ist nicht abgesichert. Zwar gibt es flächendeckende Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) für Kinder. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin sind es 22 in Bayern. Werden die Kinder erwachsen, stehen ihnen im Freistaat als Folgeeinrichtungen aber nur acht Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) zur Verfügung.

Im Ärzteblatt skizzierten die Experten die Situation so: „Der Weg in die Erwachsenenmedizin ist steinig. Die jungen Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung haben schon ambulant ein Problem, weil die MZEBs nicht flächendeckend und zudem strukturell limitiert, budgetiert und zugangsbeschränkt sind. Stationär gibt es dann erst recht kaum Behandlungsangebote für die meist komplexen Gesundheitskrisen.“

Kosten steigen,
Lebenszeit sinkt

Diese Lücke haben „Jerwa“ und das MVZ in Vogtareuth bislang geschlossen. Nun müssen sich Familien, Betreuungseinrichtungen und niedergelassene Ärzte neue Ansprechpartner suchen. Die Konsequenz ist absehbar: Der Versorgungsnotstand für Menschen mit Behinderung wird sich weiter verschärfen, denn Hausärzte und Normalstationen sind mit ihrer adäquaten medizinischen Versorgung überfordert. Kein Wunder auch, denn für die medizinische Behandlung von Menschen mit Behinderung gibt es keine Lehre und auch kein Lehrbuch. Die Kompetenz erwächst aus multiprofessioneller Fachkompetenz, Empathie und Erfahrung.

Die Folgen der Unterversorgung sind im Ärzteblatt beschrieben: „Die Hausärzte, die betroffenen Patienten und ihre Angehörigen sind hilflos. Teure Fehlbelegungen und frustrierende Drehtüreffekte sind die Folgen.“ Die Kosten fürs Gesundheitswesen werden steigen.

Was es für die Patienten bedeutet, wenn die Versorgungslücke mit dem Erwachsenwerden größer wird, beschreiben die Experten im Ärzteblatt an Beispielen: „Rollstühle und Sitzschalen, letztmals im Alter von 15 Jahren verordnet, machen weder das Längenwachstum noch die Hüftluxation, noch die neuromuskuläre Skoliose der Tetraspastik bis zum 21. Lebensjahr mit, weshalb sie die skelettalen Deformationen schmerzhaft verstärken. Epilepsien, die mit fünf Jahren zuletzt pharmakologisch eingestellt wurden, werden im Alter von 25 Jahren mit Benzodiazepinen in toxischen Tagesdosen unterdrückt, weil sich die Neuanpassung der Antiepileptika niemand zutraut … Dysphagien, deren silente Aspirationen irgendwie überlebt werden, bleiben unerkannt und unbehandelt.“ Die Liste der Nicht- und Fehlbehandlungen lasse sich beliebig verlängern, warnen die Experten.

In Vogtareuth haben junge Erwachsene mit Mehrfachbehinderung mit „Jerwa“ in den vergangenen vier Jahren eine bedürfnisorientierte, multiprofessionelle und interdisziplinäre medizinische Versorgung erhalten. „Das Angebot der ,Jerwa‘ tangiert viele verschiedene Leistungsgruppen. Dafür können wir die Strukturvoraussetzungen nicht mehr erbringen“, bedauert Klinikgeschäftsführer Georg Thiessen.

Welche Gründe hat
„Jerwa“-Schließung?

Das Gesetzgebungsverfahren zum Krankenhausreform-Anpassungsgesetz ist zwar noch nicht abgeschlossen, doch die Schön-Klinik-Gruppe wollte „nicht fremdbestimmt sein“, sondern ihre Strukturen „proaktiv selbst gestalten“, wie Thiessen erklärte. Der Bereich für junge Erwachsene mit neurologischen Erkrankungen und ihren Folgen (Jerwa), der das Potenzial hatte, sich zu einem europaweit einzigartigen Zentrum für junge Erwachsene zu entwickeln, gehört nicht zu den Visionen eines der größten Familienunternehmen im deutschen Krankenhaussektor.

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