Vogtareuth/Brannenburg – Die Station für Junge Erwachsene mit neuropädiatrischen-neurologischen Erkrankungen (Jerwa) und die neurologischen Sprechstunden im Medizinischen Versorgungszentrum an der Schön-Klinik Vogtareuth waren über viele Jahre die einzige Anlaufstelle für schwerst mehrfach behinderte junge Erwachsene in der Region. Damit ist zum 31. Dezember Schluss. Das Fachzentrum für Neurologie mit den spezialisierten Abteilungen für Epilepsie, multimodale Schmerztherapie und Medizin für Junge Erwachsene (Jerwa) wird geschlossen.
Neues Zentrum
Pädiatrie geplant
Die Schön-Klinik will in Vogtareuth ein zukunftsfähiges „Zentrum Pädiatrie“ aufbauen, in dem sie sich stärker auf die neurologische Behandlung von Kindern (Neuropädiatrie), die Kinderorthopädie und die stationäre Rehabilitation von Kindern fokussiert. In diesen medizinischen Fachbereichen wurden bisher etwa 5000 Kinder pro Jahr versorgt. Werden diese Kinder erwachsen, kümmert sich die Schön-Klinik künftig nicht mehr um sie. Dann müssen sie sich andere Ärzte und Kliniken suchen. Doch in der „Regelversorgung“ scheitert eine adäquate Behandlung oft an mangelnden Erfahrungen, fehlenden fachlichen Kompetenzen sowie räumlichen, logistischen und kommunikativen Barrieren.
„Durch das Aus der Jerwa-Station in Vogtareuth könnte eine große Versorgungslücke für die betroffenen Menschen, für ihre Familien und viele Wohnformen für Menschen mit Handicap entstehen“, befürchtet Petra Schubert, Regionalmanagerin für den Geschäftsbereich Teilhabe und Inklusion beim Caritas-Verband. Bei komplexen neurologischen Erkrankungen und ihren Folgen ist das ein riesiges Problem, nicht selten lebensbedrohlich. Alexandra Huber, Einrichtungsleiterin des „Haus Christophorus“, arbeitet seit Jahrzehnten mit den Medizinern der Schön-Klinik zusammen. Ihre Haus wäre eine von vielen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, die von der Schließung der Station „Jerwa“ betroffen sein könnten.
„Die medizinische, therapeutische und pflegerische Versorgung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen erfordert nicht nur Empathie, sondern vor allem ein breitgefächertes medizinisches und therapeutisches Wissen“, macht Alexandra Huber klar. Warum, erklärt sie am Beispiel einer Cerebralparese: „Eine frühkindliche Hirnschädigung kann beispielsweise zu schwersten sekundären Beeinträchtigungen wie Epilepsie, Schluckstörungen, Spastiken, Dystonien, Lähmungen, zu Inkontinenz, Lungen- und Atemwegsproblemen, Ernährungsstörungen, zu Deformationen der Extremitäten und zu großen Schmerzen führen.“ Erkrankungen, die ohne eine multiprofessionelle medizinische Versorgung die Lebenszeit verkürzen.
In Vogtareuth waren für kleine und große Patienten mit derart komplexen Erkrankungen alle Spezialisten beisammen: Neuropädiater, Neurologen, Orthopäden, Wirbelsäulenchirurgen, Anästhesisten, Schmerztherapeuten, Urologen, Psychotherapeuten, Psychologen, Radiologen, Pflegekräfte mit Fachweiterbildungen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Atemtherapeuten, Musiktherapeuten, Logopäden, Sozialtherapeuten und sogar Reha-Techniker. Sie begleiteten ihre Patienten mit körperlichen und geistigen Behinderungen ein Leben lang und sicherten eine ganzheitliche Betreuung, die von der Erstdiagnostik über Therapien, regelmäßige Medikamenteneinstellungen oder Röntgenkontrollen bis zur Anpassung von Orthesen oder Rollstühlen reichte.
„Gerade das ist für Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen unglaublich wichtig“, erklärt Alexandra Huber. Im „Haus Christophorus“ in Brannenburg leben 45 Bewohner im Alter von zwei bis 70 Jahren. Einige von ihnen werden seit 20 Jahren oder länger in der Klinik in Vogtareuth betreut. „Über die vielen Jahre hat sich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Die Ärzte kennen unsere Bewohner seit dem Kindesalter, haben ihre Entwicklung verfolgt, kennen ihren Krankheitsverlauf, ihre Medikamente und Besonderheiten“, so Huber. Die Einrichtung arbeitet auch mit Abteilungen für pädiatrische Neurologie und Epileptologie in Rosenheim zusammen. Doch wurden die Kinder volljährig, waren nur die Spezialisten in Vogtareuth noch ihre Ansprechpartner.
Die medizinische Versorgung in den Bereichen, die in Vogtareuth geschlossen werden, sei in der Region auch zukünftig gewährleistet, hatte die Klinik-Geschäftsführung verlauten lassen. „Ich kenne keine vergleichbare Einrichtung, kein adäquates Angebot“, macht Einrichtungsleiterin Alexandra Huber klar. Denn das Konzept der Fachabteilung für junge Erwachsene (Jerwa) ist deutschlandweit einzigartig. Etwa 140 junge Erwachsene werden dort jährlich betreut. Spezialisierte Fachärzte und erfahrene Therapeuten kümmern sich mit einzigartiger Leidenschaft und ganz individuell um die Verbesserung der Lebensqualität dieser jungen Menschen. Und das nicht nur stationär, sondern auch ambulant mit den Sprechstunden im angegliederten Medizinischen Versorgungszentrum.
„Unsere Kinder und Erwachsenen sind in Vogtareuth in den besten Händen“, sagt Huber. „Wir können uns auf die Expertise hochspezialisierter Fachärzte verlassen, die gemeinsam mit den Hausärzten, den Familien und den Mitarbeitern unserer Einrichtung die bestmögliche medizinische Versorgung für unsere Bewohner ermöglichen.“ Sei es bei der Einstellung von Epilepsiemedikamenten, bei der Behandlung von Skoliosen und Schmerzen oder bei der Anpassung von Rollstühlen. Sei es bei bildgebenden Untersuchungen unter Narkose, die es für behinderte Menschen in der Region sonst nirgendwo gibt.
„Wir können uns in allen Lebenslagen unserer schwerst mehrfach behinderten Bewohner auf die Vogtareuther Ärzte verlassen“, betont Huber und schätzt auch eines sehr: „Es ist kein Aktionismus, sondern eine Versorgung, die mit spezifischem medizinischen Fachwissen, mit großer Empathie und im Austausch mit den Familien und Einrichtungen nach einer sinnvollen medizinischen und therapeutischen Unterstützung sucht, um die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung zu verbessern.“
Die Strukturen für erwachsene Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen gehen am Standort Vogtareuth komplett verloren. Nach Informationen der Klinikleitung wird es auch keine Wirbelsäulenchirurgie und Skoliose-Behandlungen mehr geben. Zwar sei das Medizinische Versorgungszentrum von den geplanten Maßnahmen nicht betroffen, heißt es auf OVB-Anfrage. Doch welchen Sinn macht eine ambulante Sprechstunde ohne Anschluss an eine klinische Fachabteilung? Und wer soll die Sprechstunden übernehmen, wenn es ab 2026 in Vogtareuth keine Neurologie, keine Neurochirurgie, keine Wirbelsäulen-Chrirugie und keine Skoliose-Behandlung für Erwachsene mehr gibt?
„So wie vermutlich viele andere meiner Kollegen in Behinderteneinrichtungen wüsste ich nicht, wie es ohne unsere Ärzte in Vogtareuth weitergehen sollte“, ist Alexandra Huber ratlos. Denn entscheidende Fragen bleiben unbeantwortet: Wer führt die ganzheitliche inklusive Medizin fort, die in Vogtareuth verloren geht? Und wer übernimmt im Landkreis Rosenheim die medizinische Versorgung von Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen? Zwar gibt es in München ambulante Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB). Doch die sind auf bestimmte Krankheitsbilder spezialisiert und können die komplexe medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung, wie es sie in Vogtareuth gibt, nicht ersetzen. Vielmehr schicken sie ihre Patienten zur stationären Behandlung nach Vogtareuth. Hinzu kämen längere Wartezeiten, denn „mit dem Verlust der Vogtareuther Fachabteilung und ambulanten Sprechstunden wird die Schere zwischen Angebot und Nachfrage noch weiter auseinandergehen“, betont Huber. Ihr bleiben drei Monate, um die ganzheitliche medizinische Versorgung der Bewohner ihrer Einrichtung neu zu organisieren.
Jahrzehntelange
Arbeit abgewickelt
Die circa 200 betroffenen Mitarbeiter stehen unter Schock, können es nicht fassen, dass funktionierende Strukturen zerschlagen werden. Warum und wie die Arbeit von Jahrzehnten „abgewickelt“ wird? Sie haben keine Antworten. Behinderte Menschen, ihre Familien, die Einrichtungen und die Hausärzte sind sich künftig selbst überlassen. Keiner weiß, ob die für 2025 vereinbarten Behandlungstermine in Vogtareuth noch stattfinden. Und keiner weiß, wohin er sich ab Januar wenden soll.
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