Rosenheim – Robin Alexander zählt zu den wichtigsten politischen Kommentatoren und zu den Top-Journalisten im politischen Berlin. In mehreren Bestsellern bot er bereits Einblicke in die bundesdeutsche Politik. In seinem neuen Buch „Letzte Chance“ zeigt er, was für die Mitte auf dem Spiel steht, falls Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und seine Regierung scheitern sollten. Es gebe auch Grund zur Hoffnung, sagt er im OVB-Exklusivgespräch kurz vor seiner Lesung am heutigen Mittwochabend in Rosenheim.
„Letzte Chance“ lautet der Titel Ihres Buches, und ich verstehe das als die letzte Chance für die Demokratie. Die müsste ein gewisser Friedrich Merz nutzen. Wie ist Ihr Eindruck nach etwas über 100 Tagen an der Regierung? Nutzt er die Chancen eher oder ist er dabei, sie zu verbaseln?
Ich meine nicht die letzte Chance für die Demokratie, sondern die letzte Chance für die politische Mitte, eine erfolgreiche Regierung zu stellen. Und ob Merz diese Chance nutzt, ist, ehrlich gesagt, noch offen. Die Regierung hat eine ganze Menge auf den Weg gebracht, wenn man einfach mal die Gesetze zählt, die teilweise schon im Bundesrat sind. Da ist eine ganze Menge passiert, aber die Regierung hat auch schon dramatische Fehler gemacht. Denken Sie an die vermasselte Richterwahl.
Die gescheiterte Wahl einer Richterin fürs Verfassungsgericht: Ist das nicht eher nur eine personelle Petitesse?
Nein, das ist mehr als eine Petitesse, weil das Verfassungsgericht die Institution ist, die bei den Bürgern in Umfragen mit die höchste Legitimität genießt. Die Bürger vertrauen dem Bundesverfassungsgericht. Wenn Sie andere Demokratien angucken, zum Beispiel die USA oder Polen: Dort werden Urteile des obersten Gerichtshofs infrage gestellt. Dass das Bundesverfassungsgericht so angesehen ist, und zwar parteiübergreifend, ist eine gute Sache, und das sollte sich nicht ändern. Daran sollte uns allen gelegen sein.
Friedrich Merz wird auf dem Cover Ihres Buches von US-Präsident Trump und von Alice Weidel von der AfD eingerahmt. Man könnte locker noch eine Reihe anderer Herausforderungen dazustellen: marode Infrastruktur, eine unfitte Bundeswehr, und, und, und. Können Sie sich erinnern, dass die Lage schon mal so verzwickt war?
Nein, da haben Sie recht, das ist etwas Neues. Es ist eine Bewährungsprobe für die Politik. In meiner Karriere habe ich so etwas jedenfalls noch nicht erlebt. Ich würde sogar sagen, seit dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland nicht mehr so gefordert.
Geht‘s da nur um Geld oder wie müsste sich denn die Gesellschaft ändern, damit wir diese Herausforderungen überhaupt noch meistern?
Nun überfordern Sie mich ein bisschen, weil ich ja Journalist bin und ich beschreibe, was geschehen ist. Ich bin ja kein Ratgeber oder Politiker.
Merz war auch noch nicht Kanzler – und jetzt muss er regieren.
Bei Friedrich Merz kann man übrigens Facetten feststellen, die sonst selten zusammengehen. Man kennt ihn schon ewig, er hat auch schon ein beachtliches Alter, aber er ist trotzdem unerfahren. Das ist eine seltene Kombination. Andererseits, wenn es nur nach Erfahrung ginge, dann wäre Olaf Scholz ein brillanter Kanzler geworden. Scholz war schon Finanzminister, Arbeitsminister und Bürgermeister gewesen. Mehr Erfahrung ging ja gar nicht.
Friedrich Merz hat schon in den ersten Tagen seiner Kanzlerschaft außenpolitisch stärkere Akzente gesetzt als Olaf Scholz. Oder liege ich da falsch?
Ich glaube, da trügt die Erinnerung. Olaf Scholz ist sehr früh in seiner Kanzlerschaft nach Kiew und nach Russland geflogen, genauer: nach Moskau. Er hat mit Putin direkt verhandelt, ob die Invasion in der Ukraine doch noch abgewendet werden könne. Das waren schon außenpolitische Akzente. Das hat damals nicht geklappt, die Russen starteten die Invasion, aber immerhin, den Versuch hat Scholz gemacht.
Merz dagegen ist gleich mal nach Paris geflogen und dann nach Warschau. Das war doch eine sehr wichtige Aktion?
Ja, unbedingt. Ist allerdings der Klassiker von deutschen Kanzlern: sofort nach Paris zu fliegen.
Man hatte den Eindruck, dass Merz auch mit Donald Trump kann. Spielt das überhaupt eine Rolle oder ist Trump dermaßen erratisch, dass es ohnehin offen ist, wie er sich demnächst entscheidet?
Er ist erratisch und man weiß nicht, was er nächste Woche tut, aber trotzdem ist es superwichtig, dass der deutsche Kanzler wenigstens versucht, ein gutes Verhältnis aufzubauen. Weil wir in so vieler Hinsicht von den Amerikanern abhängig sind, dass uns das im anderen Fall teuer zu stehen kommen würde.
Sie beschreiben auch, woran die Ampel gescheitert ist. Was war denn der schwerste Fehler dieser Vorgängerregierung?
Die Ampel-Koalition hatte ungewöhnlich viele Herausforderungen: Corona, Inflation, Ukraine-Krieg. Und in der Bewältigung dieser Herausforderungen war sie gar nicht schlecht. Man könnte sogar sagen: Je schwieriger die Lage war, desto besser wurde sie. Als dann eine Zeit kam, in der man wieder eigene Projekte verwirklichen konnte, war die Ampel weniger erfolgreich. Sie hat angefangen, gegeneinander zu arbeiten. Das ist das Seltsame. Die Herausforderungen haben die Ampel zusammengeschweißt, und als die Herausforderungen ein Stück weit gemeistert waren, hat sich die Ampel von ganz alleine zerlegt.
Also ist sie eher an Querelen zugrunde gegangen als an schweren handwerklichen Fehlern?
Beides hat es gegeben. Im Buch ist auch von handwerklichen Fehlern die Rede. Es gab aber auch Querelen, das ist auch kein Widerspruch.
Was uns zum Beispiel in Rosenheim angeht, sind Infrastrukturfragen. Also die Sanierung von Autobahnen, und die Frage, wie man den Brenner-Nordzulauf bauen soll. Das zieht sich alles, während es in Nachbarländern vorangeht. Kann Deutschland noch Großprojekte?
Warum sollte denn ausgerechnet Deutschland die nicht können? Haben wir keine Ingenieure mehr? Können wir kein Geodreieck und keinen Zirkel mehr halten? Die Frage zu stellen, heißt doch, sie zu beantworten. Wir könnten das genauso wie unsere Nachbarländer, wir müssen nur die politischen Rahmenbedingungen schaffen.
Ist Deutschland nicht oft zu zaghaft?
Sie fragten, ob es möglich ist. Kann Deutschland Großprojekte? Das wollten Sie wissen. Dabei ist das eine Frage des politischen Willens und der politischen Umsetzung. Aber dass es ein Naturgesetz gibt, dass wir zu blöd sind, Infrastruktur zu bauen, das würde ich infrage stellen.
Positives Denken gehört nicht immer zu den deutschen Stärken. Mit welchen Lichtblicken können Sie den Leuten Mut machen?
Ich glaube immer noch, dass Deutschland ein gutes Land ist, mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung, und dass die meisten Leute in Deutschland die Tassen im Schrank haben. Und dass es immer noch möglich ist, eine vernünftige Politik zu machen.
Interview: Michael Weiser