Vogtareuth – Die Station „Jerwa“ an der Schön-Klinik Vogtareuth wird geschlossen. Davon betroffen sind junge Erwachsene mit Behinderung. Ihre Mütter laufen Sturm gegen diese Entscheidung – so wie Elke Fischer-Wagemann. Sie hat die Online-Petition ins Leben gerufen, die in wenigen Tagen mehr als 18000 Unterstützer erreichte. Sie hat eine Petition beim Bayerischen Landtag eingereicht, hat sich an die Geschäftsführung der Schön-Klinik, an Landrat Otto Lederer, an Landtags- und Bundestagsabgeordnete gewandt. Warum sie sich nicht abwimmeln lässt und für die „Jerwa“ kämpft, erklärt sie im Gespräch mit dem OVB.
Ihre Petition zum Erhalt der Station „Jerwa“ ist ein Erfolg. Wie erklären Sie sich das?
Diese Station ist in dieser Konstellation bundesweit einzigartig. Sie schließt die entscheidende Versorgungslücke zwischen Neuropädiatrie und Erwachsenenmedizin, vereint interdisziplinäre Medizin, Akutmedizin, Rehabilitation und Angehörigenarbeit. Sie ermöglicht mehrfachbehinderten jungen Erwachsenen eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Es gibt hunderttausende Betroffene in Deutschland: Menschen mit Behinderungen, pflegende Angehörige, Einrichtungen, in denen behinderte Menschen leben und ambulante medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB). Ein Wegfall der „Jerwa“-Station wäre ein massiver Rückschritt für die gesamte Versorgungslandschaft in Deutschland.
Was ist so besonders an der „Jerwa“? Was machen Ärzte, Pfleger und Therapeuten in Vogtareuth besser als an anderen Kliniken?
Das Wichtigste ist: Sie haben Platz, sie haben Zeit, sie schauen genau hin und sie hören zu. In Vogtareuth arbeiten mehrere Fachdisziplinen, die sich auf die Behandlung von Menschen mit schweren Behinderungen spezialisiert haben, zusammen. Das sind zum Beispiel Neurochirurgie, Neuroorthopädie, Wirbelsäulenchirurgie, Epilepsiechirurgie, Epileptologie, Neurologie, Intensivmedizin, Anästhesie, Schmerztherapie und Palliativmedizin. Das „Jerwa“-Team selber besteht aus Ergo-, Physio-, Musiktherapeuten, Logopäden, Heilerziehungspflegern, Pflegekräften, Ärzten und Psychologen, die alle seit Jahren fast ausschließlich mit jungen Erwachsenen mit schweren Behinderungen arbeiten.
Trotzdem ist jeder neue Patient, der auf die „Jerwa“ kommt, ja auch für dieses multiprofessionelle Team neu.
Wenn man neu auf die „Jerwa“ kommt, gibt es immer eine Kennenlernphase, die etwa fünf Tage dauert. In dieser Zeit bauen die Therapeuten einen vertrauensvollen Zugang zum Patienten, aber auch zu den Angehörigen auf, lassen einem die notwendige Zeit zum Ankommen und versuchen, in den unterschiedlichen therapeutischen Angeboten rauszukriegen, wo es Probleme gibt, wo mögliche Krisen lauern oder was gegebenenfalls geändert werden muss.
Warum ist eine solche Kennenlernphase wichtig?
Weil ein Mensch mit einer schweren Behinderung häufig nicht sagen kann, wo es ihm wehtut oder wo er Hilfe benötigt. Es bestehen Kommunikationsstörungen, häufig auch Verhaltensstörungen wie Autismus, die ein sehr behutsames Vorgehen notwendig machen. Blutabnehmen, was sonst zur Erstversorgung in der Erwachsenenmedizin gehört, ist bei Menschen mit Behinderung häufig erst nach ein paar Tagen möglich, wenn ein Vertrauensverhältnis besteht. Das „Jerwa“-Team ist dabei im ständigen Austausch miteinander, mit den Angehörigen und den Patienten. Am Ende der Woche werden dann die gewonnenen Erkenntnisse in aller Ruhe mit den Angehörigen und den Patienten besprochen und gemeinsam wird ein Behandlungsplan aufgesetzt. Die Patienten und die Angehörigen werden dabei als wichtiger Teil des Teams betrachtet und immer auf Augenhöhe behandelt.
Wo liegt der Unterschied zwischen der Behandlung von Kindern und jungen Erwachsenen mit neurologischen Erkrankungen?
Menschen, die im frühen Kindesalter erkranken – ganz egal, ob durch eine angeborene neurologische Erkrankung oder durch einen Unfall im Straßenverkehr, eine schwere Infektion oder einen Sturz – machen im Laufe ihres Lebens viele Veränderungen durch. Die Krankheit verändert sich im Laufe der Zeit durch einen beschleunigten Alterungsprozess, durch Wachstum und Pubertät. Die Probleme werden ab dem 18. Lebensjahr meist mehr statt weniger. Die Folgen der neurologischen Grunderkrankung werden immer präsenter. Es steht nicht mehr nur die Hirnerkrankung an sich im Vordergrund, sondern es kommen weitere Beschwerden hinzu: beispielsweise Gelenkversteifungen, Muskelverkürzungen, Lungenentzündungen, eine Verkrümmung der Wirbelsäule, eine Verschlechterung der Darm- und Blasenfunktion und vieles mehr. Die ursprünglich nur neurologische Erkrankung entwickelt sich zu einem Ganzkörperproblem.
Für jedes Problem gibt es einen Spezialisten. Warum braucht ein Mensch mit Mehrfachbehinderung alle an einem Ort?
Jeder weiß, wie schwer es ist, einen Termin bei einem Facharzt zu bekommen. Die jungen Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung brauchen aber nicht nur einen Facharzt, sondern mehrere. Und vor allem müssen diese Fachärzte miteinander arbeiten, den Behandlungsprozess gemeinsam absprechen und, noch wichtiger, die Zusammenhänge und die Alterungsprozesse bei der Erkrankung kennen.
Welche Folgen hat es, wenn Menschen mit Behinderung dieses ärztliche Konsil nicht finden?
Betroffene werden oft jahrelang falsch versorgt, bekommen immer mehr Medikamente, die häufig wenig helfen, oder es nur schlimmer machen. Der Hausarzt hat keine Zeit, nach der Ursache zu suchen. Die Akutkliniken sind schon damit überfordert, dass sie nicht das notwendige Personal oder die Hilfsmittel für die Versorgung der Betroffenen haben und stationäre Aufenthalte deswegen vermeiden oder so kurz wie möglich halten. Viele der Betroffenen können sich aufgrund einer Sprechstörung auch nicht selbst äußern. Dass sie sich unwohl fühlen oder Schmerzen haben, erkennt man dann oft nur an einer Verhaltensänderung. Auf einmal schreien oder weinen sie, sind unruhig, können nicht mehr schlafen, werden vielleicht sogar aggressiv in ihrer Not. Das wird dann oft als „herausforderndes Verhalten“ abgetan und mit sedierenden Medikamenten behandelt. Die Betroffenen werden ruhiggestellt, aber nicht behandelt. Das eigentliche Problem und vor allem das Leid, das damit einhergeht, bleiben bestehen.
Auf der „Jerwa“ in Vogtareuth ist das anders.
Ja, weil hier Mediziner und Therapeuten verschiedener Fachrichtungen ihre Patienten ganzheitlich betrachten – mit ihrem Fachwissen und der Erfahrung aus vier Jahren „Jerwa“. Sie kennen die Folgen neurologischer Erkrankungen, fragen gezielt alle Organsysteme ab, erkennen, wo sie mit der richtigen Behandlung zum richtigen Zeitpunkt eingreifen müssen.
Was wollen Sie gegen die Schließung der „Jerwa“ in Vogtareuth unternehmen?
Wir appellieren an die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, machen auf die gefährliche Lücke in der stationären Versorgung und das verbundene Gesundheitsrisiko für die betroffenen Menschen aufmerksam. Wir haben eine Petition beim Bayerischen Landtag eingereicht und uns an die Landtags- und Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises Rosenheim und an Landrat Otto Lederer gewandt.
Glauben Sie, dass die „Jerwa“ dadurch gerettet werden kann?
Natürlich. Wir sind viele und verschaffen uns von Rosenheim bis Berlin Gehör. Und Erfolg hat man nur gemeinsam, denn sonst wird jeder allein an die Wand gespielt. Deshalb holen wir alle Betroffenen ins Boot: Nicht nur die jungen Erwachsenen, auch ihre Angehörigen sowie Einrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Wenn unsere Online-Petition 30000 Unterstützer erreicht hat, können wir sie für eine öffentliche Beratung im Bundestag einreichen. Im Moment richten wir auch eine Homepage ein, sozusagen eine Betroffenenzentrale, um Menschen mit Mehrfachbehinderung im Kampf für eine gute medizinische Versorgung eine Plattform zu geben. Uns stoppt keiner mehr.
Aber die Schön-Klinik hat die finale Entscheidung doch schon getroffen.
Wir haben noch zwei Monate Zeit. Noch gibt es die „Jerwa“ und vielleicht ist es für ein Umdenken ja noch nicht zu spät. Deshalb haben wir auch versucht, die Geschäftsführung der Schön-Klinik dafür zu sensibilisieren, dass sie mit der Kopplung des geplanten Zentrums für Kinder mit neurologischen Erkrankungen und der „Jerwa“ ein absolutes Alleinstellungsmerkmal hätte. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.
Was ist Ihr Fazit der bisherigen Rettungsaktion?
Wenn Menschen mutig werden und handeln, entsteht ein Netzwerk der Veränderung. Inzwischen formiert sich eine Initiative. Menschen schreiben Briefe, sammeln Adressen, organisieren Unterstützung. Nur gemeinsam können wir etwas in Bewegung bringen. Die Krankenhauslandschaft braucht gemeinsames Denken und Handeln auf höchster Ebene. Anstatt in Konkurrenz zu treten, braucht es Zusammenarbeit – im Sinne der Patienten, der Nachhaltigkeit und der regionalen Versorgung. Mein Appell: Setzen Sie sich zusammen – Klinikleitungen, Ärzte, Logistiker, Politiker. Fragen Sie, wo Sie sinnvoll kooperieren können. Erinnern Sie sich an Ihren Auftrag!
Kathrin Gerlach