Heute fällt das Urteil im Wasserburger Kindesmissbrauchs-Prozess

von Redaktion

41-Jähriger vor dem Landgericht Traunstein: Tochter angeblich vom Vater missbraucht – Sachverständige schließt Lügen des Mädchens aus

Traunstein/Wasserburg – Hat ein möglicherweise vom eigenen Vater sexuell missbrauchtes Mädchen, angeregt durch eine Netflix-Serie, ein Lügengebäude errichtet? Oder basiert die Anklageschrift gegen den 41-jährigen Wasserburger auf selbst Erlebtem? Im Prozess der Zweiten Jugendkammer am Landgericht Traunstein mit Vorsitzender Richterin Jaqueline Aßbichler erteilte die Sachverständige Uta Hirschberg einem Beweisantrag der Verteidiger, der „deutliche Parallelen“ zwischen den Videos und der Schilderung des Kindes sah, eine klare Absage.

Während der Umgangsbesuche alle zwei Wochen zwischen Anfang Februar und Ende Juni 2022 soll der Angeklagte seine anfangs erst zehn Jahre alte Tochter gemäß Anklage von Staatsanwältin Anne Klug mindestens fünf „körperlichen Untersuchungen“ unterzogen haben – mit der Behauptung, so etwas sei „normal“.

Die Anklageschrift umfasst weitere massive sexuelle Handlungen im Juli 2022 an der dann Elfjährigen. Dabei musste das Kind mit dem Papa zusammen angeblich Pornofilme ansehen. Der Umgang wurde ein Jahr unterbrochen durch das Jugendamt. Der Grund: Man untersagte die Besuche wegen zu hohen Alkoholkonsums des Vaters.

Angeklagter im ersten
Prozess voll geständig

Als die Umgangswochenenden 2023 fortgesetzt werden sollten, weigerte sich das Mädchen, den Papa zu besuchen. Stattdessen offenbarte es sich seiner besten Freundin. Die riet, alles der Mama zu erzählen. Mutter und Tochter erstatteten im Juni 2024 Strafanzeige bei der Polizei. Seit 15 Monaten sitzt der Angeklagte mittlerweile in Untersuchungshaft.

Der erste Prozess gegen ihn startete im März 2025. Damals zeigte sich der 41-Jährige voll geständig – auch, um seiner Tochter eine nochmalige Aussage zu ersparen, wie es hieß. Aus Gründen, die mit dem Verfahren nichts zu tun hatten, musste die Hauptverhandlung vorzeitig beendet und am 22. Juli 2025 neu begonnen werden. Dieses Mal schwieg der Angeklagte. Die Jugendschutzkammer hörte seither viele Zeugen, darunter Familienmitglieder, Ärzte und Therapeuten der Nebenklägerin sowie die Sachverständige Uta Hirschberg an, eine Spezialistin für forensische Aussagepsychologie. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernahm das Gericht die inzwischen 14-Jährige. Ihre Mutter schilderte Schlafprobleme der Tochter, Ängste und eine weitere Panikattacke kurz vor dem Prozess. Ärzte attestierten dem Mädchen unter anderem eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Gutachterin bescheinigte, die Angaben der 14-Jährigen seien voll glaubhaft und nachvollziehbar (wir berichteten).

Welche Rolle spielte
eine Netflix-Serie?

Die Verteidiger, Harald Baumgärtl und Walter Holderle aus Rosenheim, hatten vorab für gestern einen Beweisantrag angekündigt, zu dem das Gericht eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Uta Hirschberg benötigte. Baumgärtl sprach von „außergewöhnlichen Parallelen“ zwischen den Videos einer Netflix-Serie und den Angaben der Nebenklägerin, die diese Serie nach eigenen Worten angesehen hatte. Der Verteidiger gab die Inhalte der jeweiligen Filmchen wieder und gelangte zu vielen Ähnlichkeiten. Zum Beispiel kleideten sich „Opfer“ in den Videos nach sexuellen Handlungen anders und zeichneten „düstere Bilder“. Ein „Opfer“ vertraute sich der Freundin an. Das Fazit Baumgärtls: „Die Serie stellt sexualisierte Handlungen in den Vordergrund. Nicht ausschließbar ist, dass die Nebenklägerin alles auf den Vater übertragen hat.“

„Manche Dinge können nicht kausal sein. Schwarze Kleidung hat das Mädchen schon vor der Ausstrahlung der Netflix-Serie getragen. Zeitlich kommt einiges nicht hin“, erwiderte Vorsitzende Richterin Jacqueline Aßbichler. Die Gutachterin widerlegte die Verteidigerthese Punkt für Punkt.

Lange vor der Serie habe die Geschädigte unter Panikattacken gelitten. Eine Übertragung sei somit auszuschließen. In einigen Fällen gebe es die gleichen Tatorte. Die Szenen seien jedoch anders. Sogenannte „Flashbacks“ – das Mädchen habe von „Rückblicken“ gesprochen – seien von einer Therapeutin bestätigt worden. Manche Inhalte der Videos habe die Nebenklägerin gar nicht erwähnt.

„Flashbacks“ auf
früher Erlebtes möglich

Dass sie sich als Erstes der Freundin anvertraut habe, sei „typisch für Mädchen“, so Hirschberg. Die Sachverständige unterstrich, die Serie sei erstmals Ende Mai 2024 in einem Stück, also mit vielen Details in kurzer Zeit, ausgestrahlt worden. Sich daraus etwas herauszuziehen, sei schwierig. Das Gedächtnis für erfundene Dinge sei schlechter als das für erlebte Dinge, Erinnerungen an Erfundenes nicht konstant. Staatsanwältin Anna Klug wollte wissen: „Kann es sein, dass ein Opfer durch die Serie Erlebtes wieder erlebt?“ Das bejahte Hirschberg: „Durch die Serie kann die Geschädigte mehr Klarheit über das Geschehene bekommen haben.“ Wissen könne man sich aus vielen Quellen holen: „Es ist aber etwas anderes, wenn ich etwas erlebt habe. Das wirkt sich aus auf die Qualität und die Konstanz der Aussage.“

Rechtsanwalt Harald Baumgärtl erklärte gestern abschließend, sein Mandant bestreite alle Vorwürfe: „Die von der Tochter geschilderten Sachverhalte haben zu keinem Zeitpunkt stattgefunden.“ Die gestrigen Plädoyers der Staatsanwältin, der Verteidiger und von Nebenklagevertreterin Christin Kiener aus Regensburg waren nichtöffentlich. Das Urteil wird heute, Freitag, um 14 Uhr in öffentlicher Sitzung verkündet und begründet.

Monika Kretzmer-Diepold

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