Die Kinderpsychiatrie arbeitet am Limit

von Redaktion

In der Notfallambulanz des kbo-Heckscher-Klinikums suchen im Herbst täglich bis zu 30 junge Patienten Hilfe. Ab Januar drohen der Klinik Sanktionen, wenn mehr Betroffene stationär aufgenommen werden, als der Personalschlüssel zulässt. Welche Folgen das für die Versorgung in der Region hat.

Landkreis Rosenheim – Es ist kalt, dunkel und nass. Mit dem Regen spült der Herbst bei vielen Menschen Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit an die Oberfläche. Dazu kommt der Leistungsdruck in der Schule. Bei einem Fünftel aller Kinder und Jugendlichen führt das zu schweren seelischen Krisen. Im November herrscht an der Notfallambulanz des kbo-Heckscher-Klinikums München saisonaler Hochbetrieb. Bis zu 30 junge Menschen mit akuten psychiatrischen Problemen werden hier täglich versorgt. Sie kommen aus ganz Oberbayern, auch aus dem Landkreis Rosenheim.

Seelische Erkrankungen zählen zu den häufigsten Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Vor allem die Zahl der Depressionen ist enorm angestiegen – innerhalb von fünf Jahren um 30 Prozent. Nach einer Studie des Barmer-Instituts für Gesundheitssystemforschung gab es 2023 etwa 409.000 Betroffene im Alter von fünf bis 24 Jahren. Privatdozentin Dr. Katharina Bühren, die Ärztliche Direktorin des kbo-Heckscher-Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, bestätigt das: „Eine depressive Symptomatik gehört auch bei uns zu den häufigsten Vorstellungsgründen.“

Die Ärzte in der Münchner Notfallambulanz sind täglich rund um die Uhr für ihre jungen Patienten da. Vor allem Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren suchen bei ihnen Hilfe. Sie werden von ihren besorgten Eltern gebracht, vom Arzt mit dem Krankentransport zugewiesen oder von der Polizei vorgestellt. „Unsere Aufgabe ist es, zu klären, ob eine akute Fremd- oder Eigengefährdung vorliegt. Ist dies der Fall, nehmen wir die jungen Menschen sofort stationär auf“, erklärt Bühren. Die Klinik in München verfügt über 78 voll- und 33 teilstationäre Plätze. Abhängig von ihrer psychischen Verfassung werden die Patienten im geschützt-stationären Bereich, auf einer offenen Station oder in der Tagesklinik behandelt.

„Nicht jede Notfallvorstellung führt zwangsläufig zu einer stationären Aufnahme“, erläutert Bühren. Ist aus Sicht der Notfall-Teams auch eine wohnortnahe ambulante Versorgung möglich, werden die Patienten an die psychiatrischen Institutsambulanzen des kbo-Heckscher-Klinikums, beispielsweise in Rosenheim oder Waldkraiburg, vermittelt.

Die häufigste Diagnose
ist eine Depression

Nach Einschätzung des Gesundheitsministeriums ist die stationäre und teilstationäre Versorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bayern mit 37 Einrichtungen sowie 855 zugelassenen Betten und 543 Plätzen gut aufgestellt. Und auch Katharina Bühren sagt: „Grundsätzlich kommen wir mit unseren stationären Kapazitäten hin. Wir haben ja nicht nur in München stationäre Behandlungsplätze, sodass wir die Kinder und Jugendlichen entsprechend ihres Alters und der Wohnorte zur Weiterbehandlung in eine unserer regionalen Kliniken verlegen können.“

In Stoßzeiten aber sei die Situation sehr herausfordernd. Vor allem, wenn der Ansturm auf die Notfallambulanz in München groß ist und die jungen Patienten einen längeren stationären Aufenthalt brauchen. „Dann ist eine gute Zusammenarbeit zwischen unseren Standorten mit den verschiedenen Behandlungsangeboten sehr wichtig“, so Bühren. Das Bayerische Gesundheitsministerium unterstützt den bedarfsgerechten Ausbau der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP). „Doch ein weiterer Bettenausbau ist nicht automatisch im Sinne der Patienten“, erklärt Professor Dr. med. Marcel Romanos. Er ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) und Direktor der KJP am Universitätsklinikum Würzburg. „Wir brauchen eine moderne, offene und zukunftsorientierte Kinder- und Jugendpsychiatrie, die auch die Region gut versorgt.“ Deshalb fordert die DGKJP, die Institutsambulanzen und vernetzte psychiatrische Versorgungsformen auszubauen.

Stationäre Betten
sind „attraktiver“

„Noch immer sind stationäre Betten aber attraktiver als die ambulante Versorgung“, macht Romanos klar. Die Vergütungsbedingungen zwischen dem Krankenhaussektor und der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung seien an vielen Stellen kaum anschlussfähig. Das behindere die notwendige Verzahnung zwischen Kliniken und der vertragsärztlichen Versorgungsebene. „Dadurch wird die gewünschte Ambulantisierung massiv erschwert. Gleichzeitig ist diese Verzahnung aber für die Patienten in einer Krise und für ihre Weiterversorgung von immenser Bedeutung“, so Romanos.

In der ambulanten Versorgung gibt es große regionale Unterschiede. Nach Informationen des Gesundheitsministeriums sind in Bayern 213 Kinder- und Jugendpsychiater ambulant tätig. Elf Niederlassungsmöglichkeiten sind frei. Von 18 Planungsbereichen in Bayern ist mit Westmittelfranken einer bereits unterversorgt. In Oberfranken-Ost und Ingolstadt droht eine Unterversorgung. In diesen Regionen unterstützt das Gesundheitsministerium mit einem Förderprogramm die Ansiedlung von Kinder- und Jugendpsychiatern.

Besser sieht es nach Informationen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) in Südostoberbayern aus. Mit 13 Kinder- und Jugendpsychiatern (Durchschnittsalter 53,4 Jahre) ist die Region formal überversorgt (115 Prozent). Neun Ärzte praktizieren im Landkreis Rosenheim, einer im Kreis Mühldorf, einer in Altötting und einer im Berchtesgadener Land. Im Landkreis Traunstein gibt es nach dem KVB-Versorgungsatlas keinen Kinder- und Jugendpsychiater. In der Praxis bedeutet das: Der gesamte Raum ist zwar gut versorgt, aber Patienten aus Berchtesgaden oder Traunstein haben lange Anfahrtswege. Das Problem dabei: „Sozial schwache Familien oder Familien mit mehreren Kindern haben nicht die Möglichkeit, mit einem Kind mehrmals pro Woche zu einem einstündigen Termin beim Psychiater zu fahren“, macht Katharina Bühren deutlich. „Deshalb sollte eine psychiatrische Versorgung immer wohnortnah stattfinden.“

Gut versorgt und
trotzdem kein Termin?

Erschwerend komme hinzu, dass die KVB-Berechnungsmatrix und die Realität nicht immer zusammenpassen. „Wir haben beispielsweise in München eine 100-prozentige Versorgung und trotzdem haben viele niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater ihre Wartelisten im Moment geschlossen und nehmen keine weiteren Patienten auf“, so Bühren.

Ab Januar steht die stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung vor einer weiteren Herausforderung: dem Spagat zwischen Arbeitskräftemangel und der Regresspflicht einer neuen Richtlinie zur Personalausstattung in der Psychiatrie. „Wir müssen pro Patient nachweisen, dass genug ,Therapieminuten‘ aller Berufsgruppen zur Verfügung stehen, die an der multiprofessionellen Behandlung beteiligt sind: also beispielsweise Ärzte, Psychologen, Pflege- und Erziehungsdienst, Sozialpädagogik oder Fachtherapeuten“, erläutert Bühren.

Für Kliniken mit einem Sicherstellungsauftrag und nicht planbaren Bereichen wie einer Notfallambulanz werde das zu einer großen Herausforderung: „Als Versorgungsklinik müssen wir immer aufnahmebereit sein“, betont die Ärztliche Direktorin des kbo-Heckscher-Klinikums. „Behandeln die Kliniken aber mehr Patienten, als sie Personal haben, müssen sie dafür künftig Strafen zahlen“, kritisiert Marcel Romanos. Verschärft wird diese Situation durch private Fachkliniken für Psychosomatik und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. „Diese rekrutieren ihre Patienten in der ganzen Bundesrepublik und suchen sich die lukrativsten Patientengruppen aus“, beschreibt Romanos das System. Ein elektives Geschäft, das dann endet, wenn die jungen Patienten in Lebensgefahr schweben. Eine der klassischen Notfallsituationen: extrem magersüchtige Jugendliche, die eine Nahrungsaufnahme verweigern, sodass die Gefahr besteht, dass sie sterben. Diese Patienten müssen dann in den Notfallambulanzen der Kliniken mit gesetzlichem Sicherstellungsauftrag versorgt werden.

Wie private Kliniken ihre Patienten „rekrutieren“

Das widerspricht dem gesamtgesellschaftlichen Ansatz einer wohnortnahen Versorgung und stellt das kbo-Heckscher-Klinikum vor zusätzliche Hürden. „Wir müssen uns dann darum kümmern, dass diese jungen Menschen in ihrer Heimatpsychiatrie weiterversorgt werden“, beschreibt die Ärztliche Direktorin des kbo-Heckscher-Klinikums, das eigentlich für Kinder und Jugendliche aus Oberbayern zuständig ist. Ein Problem, das gelöst werden muss, findet die Kinder- und Jugendpsychiaterin und schlägt vor: „Wir wünschen uns, dass die Fachkliniken für Psychosomatik uns in der Behandlung unserer regionalen Patienten stärker unterstützen.“

Förderprogramme gegen Versorgungsnotstand

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