Schüsse auf Arbeiter: Rentner muss in Haft

von Redaktion

Ein 68-jähriger Rentner hat in Rosenheim nach einem Streit über Baulärm auf einen Bauarbeiter geschossen. Das Gericht wertete die Tat nicht als versuchten Mord, da der Mann eine zweite Schusschance nicht nutzte. Er wurde dennoch zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Rosenheim/Traunstein – Keine Spur von Erleichterung oder Freude. Auch nicht von Traurigkeit oder Wut. Mit fast versteinerter Miene hört der ältere Mann in der khakifarbenen Winterjacke zu, während der Richter ihm erklärt, wie sein Leben in den kommenden Jahren aussehen wird.

Der 68-jährige Rosenheimer muss ins Gefängnis. Für etwas mehr als dreieinhalb Jahre. Eine Regung hinter dem dichten grau-weißen Bart des Mannes gibt es nicht. Und das, obwohl es für den Rentner auch ganz anders hätte kommen können.

Vorwurf:
Versuchter Mord

Auf der Anklagebank des Landgerichts Traunstein sitzt er wegen eines Vorwurfs, der ihn im härtesten Fall sogar lebenslang hinter Gitter bringen hätte können: versuchter Mord. Dahinter stecken die Geschehnisse vom 17. April 2025. An diesem Tag geriet der 68-jährige Rosenheimer mit einem Handwerker (24), der auf dem Nachbargrundstück laute Pflasterarbeiten durchführte, in Streit – weil den Mann der Lärm der Bauarbeiten störte.

Zunächst beleidigte („Drecks-Kanake“) und bedrohte („Ich schieß dir in den Kopf“) der Rentner den Bauarbeiter, dann eskalierte die Auseinandersetzung am Gartenzaun: Der Mann zog eine Pistole und schoss in Richtung des 24-Jährigen, der gerade auf einem Radlader an seinem Küchenfenster vorbeifuhr. Die Kugel verfehlte den Bauarbeiter, schlug rund einen halben Meter unter ihm, knapp über dem Reifen des Gefährts, ein. Der 24-Jährige rettete sich mit einem Sprung vom Radlader und flüchtete hinter die nächste Hausmauer.

Die Frage nach dem
zweiten Schuss

Es sind die Sekunden danach, die für den Fall eine wichtige Rolle spielen, betont der Vorsitzende Richter Volker Ziegler während seiner Urteilsbegründung. Und die auch mit darüber entscheiden, ob dem Rentner vorgeworfen werden kann, dass er den Bauarbeiter tatsächlich töten wollte.

Die Frage, die im Raum steht: Hatte der 68-Jährige die Möglichkeit, ein zweites Mal auf den Bauarbeiter zu schießen? Um sein Werk sozusagen „zu vollenden“.

Eine erste Antwort liefert einer der beiden Polizisten, der zu dem Streit gerufen wurde und kurz vor dem Schuss am Haus eintraf. Er habe beobachtet, wie der junge Mann vom Boden aufstand und erst mal „vollkommen perplex“ neben der Baumaschine stand – und eben nicht sofort das Weite suchte. Erst als er ihn mehrmals darauf hingewiesen habe, sich zu verstecken, sei der 24-Jährige weggelaufen, sagt der Polizist. In dem Hinterhof, durch den der junge Mann flüchtete, waren auch keine Hindernisse oder andere Versteckmöglichkeiten. So habe der Handwerker noch „mehrere Sekunden“ in der Schussbahn gestanden.

Genügend Zeit, um ein zweites Mal eine Kugel abzufeuern, erklärt ein Schusswaffen-Sachverständiger vom Bayerischen Landeskriminalamt. Er habe nach der Tat die Waffe des 68-jährigen Rosenheimers untersucht – und mit dieser selbst geschossen. „Da hat sich gezeigt, dass im Idealfall 0,3 Sekunden zwischen zwei Schüssen liegen“, sagt er im Zeugenstand. Obwohl die Pistole nicht mehr im besten Zustand gewesen sei, seien die weiteren Patronen im Magazin auch „funktionsfähig“ gewesen.

Genauso habe er bei seinen Tests herausgefunden, dass mit der Waffe trotz des Zustands und Alters zielgenaue Schüsse möglich waren. Große Abweichungen beim Trefferbild habe es nicht gegeben. „Wie genau der Schuss dann erfolgt, das hängt aber natürlich stark vom Schützen ab“, sagt der Sachverständige.

Ein Punkt, den der Verteidiger Axel Reiter in seinem Plädoyer später noch genau hervorheben wird. „Das zeigt, dass mein Mandant bewusst weiter nach unten geschossen hat, um den Handwerker mit einem Warnschuss zu erschrecken“, betont der Anwalt. Wenn er ihn hätte treffen wollen, hätte der 68-Jährige das mit seinen „Schuss-Kenntnissen“ von der Bundeswehr auf die Entfernung von rund neun Metern geschafft. So ist für den Verteidiger klar: Ein versuchter Mord ist das auf keinen Fall. „Ansonsten wäre der Schuss niemals so weit daneben gegangen. Außerdem hätte er ohne Probleme noch mal schießen können“, sagt er.

Nur mit Glück
nicht mehr passiert

Es sind Beweise, die auch die Staatsanwältin nicht von der Hand weisen kann. „Man kann nicht davon ausgehen, dass er absichtlich auf den Handwerker geschossen hat“, sagt sie. Ein Mordversuch sei so nicht nachzuweisen. Dennoch ist sie davon überzeugt, dass der Rosenheimer zumindest eine Schussverletzung des 24-Jährigen in Kauf genommen hat. „Einen Warnschuss kann ich auch woanders hinschießen“, macht sie deutlich.

Es sei nur „Glück gewesen, dass an diesem Tag nicht mehr passiert ist“. Zumal die Reaktion des Rosenheimers auf den Lärm der Baustelle „absolut nicht nachvollziehbar“ sei. „Jeder regt sich mal wegen Lärm auf, aber so zu reagieren, ist nicht verständlich“, sagt sie. Und das sei auch zu bestrafen. Nur weil es kein versuchter Mord ist, bleiben immer noch die Nötigung, Sachbeschädigung, der unerlaubte Waffenbesitz und die Körperverletzung. Schließlich leide der 24-Jährige sowohl körperlich als auch seelisch immer noch unter der Tat. Ihre Forderung: zwei Jahre und sechs Monate Gefängnis.

Dem Gericht um Volker Ziegler ist das zu wenig. „Eine solche Reaktion auf alltägliche Dinge ist völlig unangemessen“, sagt der Vorsitzende Richter. Da gebe es nichts zu beschönigen, auch wenn es sich um keinen Mordversuch handelt. Schließlich habe der Rosenheimer trotzdem mehrere Straftaten auf einmal begangen. Noch dazu habe er sich „massiv bewaffnet“, da in seinem Haus mehrere Brandsätze und eine weitere Waffe gefunden wurden.

Nicht nur
ein Grantler

Auch als Ausrutscher oder einmalige Ausnahmesituation könne der Nachmittag nicht gewertet werden, so Ziegler. Die Nachbarn des 68-Jährigen hätten schon seit längerer Zeit „unter seinem Unwesen“ gelitten, sagt er. Immer wieder sei es zu Beleidigungen und Bedrohungen gekommen. Das hätten die Nachbarn in ihren Aussagen bestätigt. Entweder waren die Autos zu laut, die Pflege des Carports hat gestört, selbst minderjährige Mädchen habe er beim Ballspielen gefilmt und beschimpft. Mal mit bedrohlichen Gesten, mal mit wüsten Sprüchen hinter dem gekippten Fenster.

„Ich wollte nur ein paar
Minuten ohne Lärm“

„Sie hassen Menschen und verabscheuen Ihre Nachbarn. In Ihrer Gefährlichkeit haben Sie sich aber immer gesteigert“, sagt Ziegler. So sei im Handeln des Rentners nicht mehr nur die „Ungehobeltheit eines bayerischen Grantlers“ zu sehen. „Sie haben zu Mitteln gegriffen, die nicht zu dulden sind“, betont der Richter. Darauf müsse der Rechtsstaat reagieren. Eine Reaktion darauf gibt es am Ende auch vom Angeklagten. Mühsam erhebt er sich aus dem Stuhl und sagt mit rauer, tiefer Stimme: „Ich wollte doch nur ein paar Minuten ohne Lärm.“

Artikel 5 von 11