Der unverwüstliche Deodatus

von Redaktion

Die Ganzkörperreliquie des heiligen Deodatus in Mühldorf hat vieles überstanden: Katakomben- und Kircheneinsturz, Raub der heiligen Erde und zuletzt Holzwurmbefall. Nun hat sich der Reliquienfasser und Restaurator Reinhard Zehentner der kunstvoll verzierten Gebeine angenommen und sie in einem aufwendigen Verfahren gerettet.

Mühldorf – Nicht mal als Toter hatte er seine Ruhe: der heilige Deodatus. Die Ganzkörperreliquie ist in einem gläsernen Schrein auf dem Sebastiansaltar in der Kirche St. Nikolaus in Mühldorf ausgestellt und hat im Laufe der Jahrhunderte einiges erlebt. Als Lebender für den Glauben gelitten und gestorben, in Katakomben nahe Roms bestattet und vergessen. Während der Barockzeit kam es zu einem Zufallsfund: Ein Weinberg stürzte ein, ein Winzer entdeckte dabei unterirdische Begräbnisstätten.

Nicht lange dauerte es, bis der Vatikan das Geschäftsmodell des Exports sogenannter „heiliger Leiber“ über die Alpen für sich entdeckte. Fromme Menschen glaubten an den Trost und die Wunderkraft von Reliquien; die Heiligen galten als Fürsprecher im Himmel. Allerdings wurde beim Reliquienhandel auch Schindluder getrieben, etwa indem Tierknochen als menschliche Gebeine verkauft wurden.

Schon als Kind
fasziniert von Reliquien

„Der Reliquienhandel boomte während der Barockzeit“, erläutert Restaurator Reinhard Zehentner. Der Mühldorfer beherrscht die alte Kunst des Reliquienfassens und hat Deodatus wieder herausgeputzt. „Schon als Kind war ich fasziniert von Gebeinen und kaufte mir auf der Fraueninsel ein Reliquienbrieflein für ein paar Pfennige.“

Über 40 Jahre war Zehentner im Denkmalamt München tätig und beschäftigte sich mit religiöser Volkskunst. An der Landesstelle für nicht-staatliche Museen in Bayern war er zuständig für restauratorische Beratungen.

Klima, Lagerung, Reinigung, Textilienhüllen – alte Knochen müssen mit Bedacht behandelt werden. Deodatus‘ Gebeine wurden über Salzburg – wo sie mit Drahtverzierungen gefasst wurden – über Salzach und Inn 1745 nach Mühldorf überführt. Dort überstand die Ganzkörperreliquie 1768 sogar den Einsturz des Kirchendachs der Pfarrkirche St. Nikolaus. Dekan Wolfgang Summerer war übermütig geworden bei der Umgestaltung der „düsteren gotischen Hallenkirche“. Maurer und Gutachter machten ihren Job auch nicht richtig und ersetzten die massiven Pfeiler durch zu schlanke Säulen. Das Gewicht des Gewölbes machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.

„Zum Glück war das nach der Messfeier und Menschen waren nicht in der Kirche. Und der Deodatus hat‘s überlebt, wie durch ein Wunder“, sagt Zehentner mit einem Schmunzeln. Humor ist ein wichtiger Bestandteil für den 71-Jährigen, der sich weiterhin ehrenamtlich mit menschlichen Überresten und der damit zwangsläufig verbundenen Endlichkeit des Lebens beschäftigt. Er kennt sie alle, die Anekdoten und Kuriositäten rund um „seine Heiligen“.

Darum hat er auch schon die ein oder andere Persiflage gemacht, etwa zur weißen Feder des Erzengels Michael und zur schwarzen Feder des Luzifer. „Beim Kampf gegen die höllischen Kräfte ging es mächtig zur Sache und beide Seiten mussten Federn lassen“, so Zehentner.

Beim Putzen heilige Erde weggeschüttet

In den 1950er-Jahren wollten fromme, fleißige Frauen etwas Gutes tun und staubten das verzierte Skelett des Deodatus ab, das in einem gläsernen Schrein mit opulentem Holzrahmen – wie bis heute – auf dem Sebastiansaltar platziert war. In seiner rechten Hand hielt es einen Kelch. „Darin befand sich Erde aus den Katakomben bei Rom. Die Erde galt als heilig, weil der Körper der Märtyrer sie berührt hatte“, so Zehentner. „Beim Reinigen sahen diese braven Frauen den ,Schmutz‘ in dem Kelch und kippten ihn weg.“

Im Zuge der Sanierungsplanungen an der Pfarrkirche wurde Deodatus samt Schrein in der Sakristei zwischengelagert. „Und irgendwie vergessen. Eine Decke darüber gelegt und Zeug darauf gestapelt. Da hat er mir dabarmt“, so Zehentner.

Im Pfarrheim hat der Reliquienfasser einen Raum gefunden, in dem er dafür sorgte, dass die Körperreliquie wieder glänzte. Ein halbes Jahr ehrenamtliche Arbeit steckte er in seine Aktion. „Wir sind ihm sehr zu Dank verpflichtet“, sagt Jutta Bauernfeind vom Pfarrgemeinderat. „Er ist unser Spezialist, ein Kind dieser Stadt und hat sich sofort an die Arbeit gemacht. Nicht wenige Kirchgänger hatten die Reliquie schon vermisst“, so Bauernfeind.

Kaum waren die Gebeine wieder an ihrem Platz auf dem Seitenaltar, machte sich der Holzwurm an der Holzverzierung des klassizistischen Schreins, den der Bildhauer Lorenz Hermbler 1744 gefertigt hatte, zu schaffen.

Mehrere Monate
mit Stickstoff begast

„Während der Renovierung war ein aktiver Befall nicht zu sehen. Um das in den Griff zu bekommen, brachten wir Deodatus samt Schrein in ein Depot der Erzdiözese München-Freising, wo er mehrere Monate mit Stickstoff begast wurde.“ Da Zehentner die kostbare Fracht nicht einfach in einem VW-Bus kutschieren wollte, übernahm Bestatter Karl Liegl die Überführung in seinem Leichenwagen, begleitet vom Reliquienfasser.

Das sorgte für Aufsehen, als der Leichenwagen vor dem Kunstdepot in einem Wohngebiet anhielt. „Die Leute machten große Augen“, so Zehentner. Und auch, als der Leichenwagen den Restaurator später daheim an seinem Haus am Stadtplatz Mühldorf absetzte, staunten seine Nachbarn.

Viel von den
Klosterfrauen gelernt

Der Reliquienfasser erklärt im Gespräch mit der Heimatzeitung die Komposition der Fassungen an Deodatus. Er deutet auf die goldenen Borten, die vor langer Zeit in Salzburg gefasst worden sind. „Die sind handgemacht, aus leonischem Draht, der ist vergoldet. Diese alte Kunst hab ich mir selbst beigebracht und auch viel von den Klosterfrauen der Englischen Fräulein in Altötting gelernt“, so Zehentner. Seine erste Reliquie war die selige Gisela von Ungarn. Als Restaurator im Landesamt für Denkmalpflege bekam er 1999 den Auftrag, ihre Gebeine neu zu fassen. Und viele weitere folgten. Um sich die Arbeit zu erleichtern, den filigranen Draht zu wickeln und gleichmäßige Schlaufen zu erhalten, habe er sich einst von einem Feinmechaniker ein „Maschinderl“ mit einer Kurbel bauen lassen. „Der Draht wird gewickelt, gequetscht und gezogen, so entstehen dann kleine Bögerl“, erklärt der 71-Jährige. Es gibt verschiedene Methoden und Muster.

Zehentner nutzt zum Reinigen einen winzigen Museumsstaubsauger oder einen Pinsel. Seine Brille sitzt dabei auf der Nasenspitze. Er geht behutsam vor. „Was gut ist, bleibt bestehen und wird gereinigt, der Rest ersetzt.“ Die bunten Glassteine werden mit Alkohol und Wattestäbchen abgerieben. An Deodatus gibt es eine Besonderheit. „Die Finger- und Zehenspitzen sind kunstvoll mit kleinen Perlen verziert, so als trüge Deodatus Nagellack. Das ist einzigartig, so etwas habe ich zuvor nie gesehen“, sagt der Restaurator.

Eintauchen in die
Welt des Verstorbenen

Wenn Reinhard Zehentner sich mit einer Reliquie beschäftigt, taucht er tief ein in die Welt des Verstorbenen und beschäftigt sich mit der Historie. „So hab ich mich beispielsweise viel mit dem Dreißigjährigen Krieg befasst, weil ich mehrfach den Tilly beerdigt hab, wenn der in Altötting in seiner Gruft in der Stiftskirche wieder abgesoffen ist.“ Nach Starkregenereignissen hatte der Restaurator dafür gesorgt, dass die Knochen gereinigt und erneut zur Ruhe gebettet wurden.

Zehentner guckt schelmisch, wenn er erzählt. Und so werden die Sagen und Mythen um „seine“ Heiligen und Seligen lebendig. Er ist ein eloquenter Unterhalter, der es versteht, den Menschen den Kult um die „heiligen Überbleibsel“ näherzubringen. So hatte er im Jahr 2020 gemeinsam mit dem Geschichtszentrum Mühldorf die Sonderausstellung „Perlen, Gold und heilige Leiber“ ins Leben gerufen.

Der Fluch
der Mumie

Wenn er mit Überresten arbeitet, die Jahrzehnte eingelagert waren, etwa in Briefchen oder Kistchen, trägt Reinhard Zehentner Mundschutz und Handschuhe. „Daran haften Bakterien oder auch Schimmel, wenn zum Konservieren Knochenleim verwendet wurde. Das reizt die Atemwege. Da muss ich immer gleich an den Fluch der Mumie denken.“

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