Rosenheim – Die Ethnologin Dr. Kundri Böhmer-Bauer stellte sich in einem ganztägigen Seminar beim katholischen Bildungswerk als „Übersetzerin“ für die kulturelle Prägung in Afrika zur Verfügung, vor allem in Westafrika. Man konnte den Teilnehmern fast ansehen, wie es bei ihnen „klick“ machte. Bestes Beispiel war das Thema Pünktlichkeit, eine Tugend, derer sich die Deutschen rühmen und die sie mit Selbstverständlichkeit auch von anderen erwarten.
Afrikanische Zeitvorstellungen sind anders. Da heißt es: „Mensch geht vor Zeit“. Wer auf dem Weg zur Arbeit einen Freund trifft, kann nicht pünktlich sein und muss erst erklärt bekommen, warum das wichtig ist. Die Referentin selbst erlebte diesen Umgang mit der Zeit sehr konkret, als sie in Zimbabwe mehrmals versuchte, den Zeitpunkt für eine Verabredung am Nachmittag genauer festzulegen, bis es schließlich aus dem Gesprächspartner herausbrach: „Nach dem Mittagessen und vor dem Sonnenuntergang.“ Genauer ging es nicht. Je höher der Status einer Person, desto später kommt sie, eventuell auch gar nicht. Wichtig ist die Jetztzeit. Was in zwei Wochen sein wird, ist in vielen afrikanischen Ländern ungewiss, wo Armut und Terror herrschen. Deshalb lässt sich die Zukunft nicht planen, deshalb wird Geld, das jetzt vorhanden ist, auch jetzt ausgegeben. Fürsorgliche Kommentare von Behördenvertretern oder Flüchtlingshelfern, das gerade ausgezahlte Geld müsse für vier Wochen reichen, kommen aus diesem Grund oft nicht an.
Ein Lehrer, der fragt, weiß nichts
Die Referentin machte immer wieder klar, dass es aus ihrer Sicht, wenn es um fremde Kulturen geht, kein „richtig oder falsch“ gibt, nur ein „anders“. Aber zu wissen, warum sich der andere aus deutscher Sicht so „merkwürdig“ verhält, könne sehr hilfreich sein. Beispielsweise sind afrikanische Schüler daran gewöhnt, dass der Lehrer doziert und die Schüler stumm zuhören. Das muss man im Kopf haben, wenn sich ein afrikanischer Schüler in Deutschland beschwert, der Lehrer wisse nichts: „Der fragt ja uns die ganze Zeit.“ Bis er sich beschwert, wird es aber lange dauern. Erst einmal wird er auf jedes „Haben Sie verstanden?“ mit „Ja“ antworten, denn wenn der Schüler etwas nicht versteht, ist der Lehrer schlecht und dessen Gesicht ist zu wahren. Dem Chef einen Hinweis zu geben, wenn etwas nicht rund läuft, ist nicht angebracht, weil man damit an seinem Stuhl sägt. Andererseits herrscht auch Pragmatismus: „Warum sollte ich ihm etwas sagen, wenn er doch besser bezahlt wird?“
In Deutschland gilt, dass, wer sich etwas ausleiht, die Sache unaufgefordert zurückgibt. In Afrika ist es umgekehrt. Wer sich zeitweise von einer Sache trennt, muss sie zurückfordern. Sonst sendet er das Signal aus, er brauche das Teil nicht mehr. Solche Missverständnisse können die Atmosphäre im Alltag verderben und das Engagement der Flüchtlingshelfer bremsen, wurde in der Diskussion und in Rollenspielen deutlich. Die Teilnehmer lernten auch: Afrikaner fühlen sich meist einer Gruppe zugehörig. Wird einer gelobt oder mit einer besseren Position betreut, ist dies eine Zurücksetzung der anderen. Wird einer kritisiert, fühlen sich auch die anderen gemaßregelt.
Afrika, das sind 54 Länder mit 2000 Sprachen. Einige Bewohner können sich ohne die Sprachen der ehemaligen Kolonialherren, also vor allem Englisch und Französisch, gar nicht verständigen. Beim Blick zurück in die Geschichte behandelte die Referentin nicht nur das düstere Kapitel der Kolonisation, sondern auch die Gegenwart, in der Meere leergefischt und, etwa vor der Küste Somalias, giftige Abfälle hineingekippt werden. Viele afrikanische Länder liefern Rohstoffe nach Europa, produzieren aber kaum selber etwas. Deshalb fehlen Arbeitsplätze. In Nigeria kommen auf eine neu zu besetzende Stelle 5000 Bewerber.
Nach Europa zu gehen, erscheint deshalb verlockend. Aber kaum ein Afrikaner ist darauf vorbereitet, dass seine Werte hier nicht gelten, etwa: Je mehr Zeit man in die Lösung eines Problems investiert, desto größer ist das Prestige. In der deutschen Schule oder am Arbeitsplatz kommt man damit nicht weit. Fern von der Familie leben zu müssen, ist häufig das größte Problem, denn in der afrikanischen Heimat gehört das ganze Dorf dazu.
Ziel des Seminars war es, den Teilnehmern Hilfestellung für ihre berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit zu geben, damit Missverständnisse erst gar nicht entstehen oder sich zumindest erklären lassen. Angesprochen wurden auch die Themen Männer- und Frauenbilder, Religion und Geisterglaube. In vielen Bereichen könne man sicher auf die fremde Kultur Rücksicht nehmen, meinte Böhmer-Bauer. Völlig inakzeptabel sei es allerdings, vor lauter Rücksicht bei Frauenrechten Kompromisse einzugehen.