Früher wurde nicht nur unter der Dusche gesungen, sondern auch in der Familie und bei Festen. Das Liedgut wurde von Generation zu Generation überliefert. Warum ist das Kulturgut Gesang heute aus der Gesellschaft fast verschwunden?
Zum einen hat der Rückgang des Singens bis heute mit den Folgen des Nationalsozialismus zu tun. Da man das Singen (etwa von Volksliedern) in jener Zeit stark für die NS-Ideologie instrumentalisiert hat, wurde das Singen nach 1945 gebrandmarkt und aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt, bis in die 1970er-Jahre sogar aktiv bekämpft. Die Folgen dieses „Sing-Banns“ sind bis heute spürbar.
Ein weiterer Grund ist die Veränderung des Familienbildes: Früher war das häusliche Singen von Kinder- und Kirchenliedern von Müttern mit ihren Kindern üblich, etwa vor dem Schlafengehen oder in der Advents- und Weihnachtszeit. Durch die Emanzipierung der Frau, eine wachsende Anzahl von Alleinerziehenden, die neben der Erziehung der Kinder vielfach bei extremen Arbeitszeiten auch noch das nötige Geld verdienen müssen, fällt die (musikalische) Erziehung heute häufig ausschließlich den Erzieherinnen in Krippe, Hort und Kindergarten zu. In der Ausbildung Letzterer spielt Musikpädagogik aber leider keine oder eine zu geringe Rolle. Lieder wie „Der Mond ist aufgegangen“ kannte vor einem halben Jahrhundert jedes Kind auswendig. Wenn ich heute im Kinderchor derartige Lieder aus der „Versenkung“ hole, ergibt sich ein ernüchterndes Bild. Dabei wäre gerade im Kindesalter Singen von entscheidender Bedeutung, um in den sogenannten „sensiblen Lernphasen“ der Kinder den Grundstock für einen lebenslang richtigen Umgang mit der eigenen Stimme zu legen. Wer als Kind nicht singt, der findet erwiesenermaßen auch als Erwachsener selten einen Zugang.
Sie sprechen auch vom Verlust einer Kulturtechnik. Was sind die Gründe?
„Leistung“ ist das Damoklesschwert, das über allem schwebt. Ein Streben nach Kapital und Karriere dominiert das Berufsleben breiter Bevölkerungsschichten- „Soft skills“ verlieren dagegen an Wert. Auch vor den Kindern macht dieser Gedanke nicht halt. Unser Bildungssystem ist mehr und mehr kognitiv orientiert. Musik- und Kunststunden werden gekürzt. Sensibilität, Emotionalität und Gefühl werden häufig als Schwäche ausgelegt, wodurch auch das Singen, ja das Interesse an den „schönen Künsten“ per se, auf der Strecke bleibt. Immer mehr Menschen leben heute dauerhaft in körperlicher Anspannung und Verkrampftheit. Vielen fehlt der Zugang zum beziehungsweise das Hineinspüren-Können in den eigenen Körper, was vielfach auch zum Verlust einer gesunden Atemtechnik führt. Sie haben Hemmungen, etwas zuzulassen, etwa „frei von der Leber“ darauf los zu singen. Für das Singen ist die Fähigkeit des „Zulassens“ aber essenziell.
Wo gesungen wird, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen kennen keine Lieder. Das sind bekannte Volksweisheiten. Gelten sie noch heute?
Ja, ich denke schon! Sieht man mal von singenden „Randalemachern“ in den Sportstadien ab, gilt das sicherlich bis heute. Gerade das gemeinsame Singen mit anderen Menschen wird als äußerst verbindend, ja erhebend und motivierend empfunden. Im Miteinander wächst der Einzelne über sich hinaus, wodurch der Klang eines Chores oft viel tragfähiger, farbiger und facettenreicher als die bloße Summe der Einzelstimmen ist. Das ist auch der Grund, weshalb Darbietungen von Chören dem Zuhörer die berühmten „Gänsehautmomente“ bescheren. Auch die Forschung beweist: Singen produziert Glückshormone und macht gute Laune, fördert Kreislauf, Atemtechnik und Koordination. Dadurch beugt Singen auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder einer Altersdemenz vor. Für viele Menschen ist die wöchentliche Chorprobe dazu ein soziales Ereignis. Es ist der Ort, an dem man Freunde und Bekannte trifft, sich austauscht, Kummer und Sorgen ausblenden und neue Kraft tanken kann.
Sie sind überzeugt: Singen fördert auch die Persönlichkeit. Wie ist das zu verstehen?
Die menschliche Stimme ist eines unserer vielleicht ureigensten Erkennungsmerkmale und Ausdrucksmittel von Gefühlen. Jeder Mensch identifiziert sich über seine Stimme und wir bewerten jeden Menschen unterbewusst beim ersten ausgesprochenen Laut nach seiner Stimme. Ob jemand gut oder schlecht gelaunt ist, hören wir sogar am Telefon sofort. Bei Kleinkindern überwiegt das Ausprobieren, das Spielen mit den stimmlichen Möglichkeiten, etwa beim ersten fröhlichen „Glucksen“. Ein souveräner Umgang mit der eigenen Stimme trägt gerade bei Kindern zu einer selbstbewussten Persönlichkeitsentwicklung bei. Im Erwachsenenalter weicht dieser kindlich-kreative Umgang mit der Stimme immer öfter ernsthaften Stimmstörungen wie Heiserkeit und genereller Verkrampftheit. Chorsingen kann den bewussten und richtigen Umgang mit der Stimme vermitteln und damit Stimmstörungen vorbeugen oder lindern. Wer singt, legt den Grundstein dafür, seine Sing- und Sprechstimme ein Leben lang gesund und belastbar zu erhalten. Daher kann man nicht früh genug mit dem Singen anfangen, gleichzeitig ist es auch nie zu spät, um noch damit beginnen. Interview: Heike Duczek