Rosenheim – „Guerillagärtnern“ nennt sich der neue Trend, der sich ausgehend von Großbritannien und den USA in Deutschland einer immer größer werdenden Fangemeinde erfreut. Doch das klingt kämpferischer, als es ist, sagt Anja Frohwitter, Initiatorin der Stadtpflanzen Rosenheim, schmunzelnd. Heimlich werden sie und ihr Geschäftspartner Sven Seynsche aus München keine Samenbomben im Boden versenken und auch keine öffentlichen Grünflächen erobern. Aussäen als subtile Methode des Protests ist nicht ihr Ding. Die beiden Gründer wollen stattdessen die Rosenheimer motivieren, die Stadt als Anbaufläche für Gemüse und Kräuter zu nutzen – selbst dann, wenn es nur wenig Platz zum Gärtnern gibt.
Von Samenbomben und Kräuterkugeln
Anja Frohwitter weiß aus eigener Erfahrung: Auch auf dem Balkon und auf der kleinsten Terrasse gedeihen Salat, Tomaten, Karotten und Co. Dieses Wissen will das Startup der Stadtpflanzen GmbH weitergeben – unter anderem in Workshops und Seminaren für Erwachsene und Kinder.
Die Idee kam Frohwitter schon in Berlin, wo sie sieben Jahre lang lebte und auf dem Balkon Tomaten züchtete. Das Gärtnern liegt ihr im Blut. Ihre Großeltern waren Selbstversorger und spannten sie gerne als Erntehelfer ein.
Als Kind war Frohwitter nicht immer mit Begeisterung dabei, gibt sie zu. Doch als die Mutter von Zwillingen anfing, für die eigenen Kinder zu kochen, startete auch sie mit dem Anbau. Einen eigenen Garten hatte die Großstadtpflanze damals nicht, doch auch auf dem Balkon klappte es mit der Kleingärtnerei. Vor drei Jahren zog die Familie von München nach Rosenheim. Hier liefert jetzt der eigene Garten die Rohstoffe für die Familienmahlzeiten.
Trotzdem: Gesunde Ernährung ist gar nicht so einfach, weiß Frohwitter. Denn Bio-Lebensmittel aus dem Supermarkt sind für sie immer dann eine Mogelpackung, wenn sie aus den entlegensten Ecken der Welt nach Rosenheim transportiert werden – eingeschweißt oder verpackt in Plastik. Bio heißt für sie auch: regional. Doch selbst dieser Begriff sei nicht geschützt oder gesetzlich definiert. Deshalb ist es am besten, zum Minigemüsebauer zu werden und sich selbst die Zutaten für ein gesundes Essen anzubauen, findet Frohwitter.
Doch viele Menschen haben nach ihrer Erfahrung auch in ländlichen Regionen verlernt, zu pflanzen, zu säen, zu ernten oder einzukochen – kurzum: Der Bezug zum Entstehungsprozess der Lebensmittel ist verloren gegangen. „Keiner mag sich mehr die Hände schmutzig machen“, stellt die 44-Jährige außerdem fest.
Salat auf dem Balkon, Rüben in der Tasche
Steril geht es jedoch nicht zu im Hinterhof in der Kellerstraße 7b, wo die „Stadtpflanzen GmbH“ eine alte Werkstatt und eine kleine Grünfläche in Verkaufs-, Lager- und Ausbildungsräume verwandelt hat. Hier werden zum Saisonstart am 15. März die Hände tief in Pflanzerde vergraben – wenn Mitarbeiterin Felicitas Selter, die einen Sommer-Studiengang an der TU Berlin im urbanen Gärtnern besucht hat, erklärt, wie aus einem Samenkorn eine reiche Gemüseernte wird. Das funktioniert sogar im Balkonkasten, im Topf auf der Fensterbank, in der Pflanztasche, an Hauswänden und Fassaden, in vertikalen Hochbeeten, auf kleinen grünen Lücken im grauen Asphalt. Ein Ort in der Stadt eignet sich nach Erfahrungen der Initiatoren besonders gut für das Gärtnern: das Dach mit seinem besonderen Mikroklima. Hier gedeihen Gemüsepflanzen besonders gut. Deshalb suchen die Initiatoren ein Modelldach, um dies zu beweisen (Kontaktaufnahme über www.stadtpflanzen.de).
Auch die Forschung hat die urbane Landwirtschaft auf dem Radar. Das Rosenheimer Projekt unterstützt die bayerische Landesanstalt für Wein- und Gartenbau mit dem Institut für Stadtgrün. Außerdem sind Kooperationen mit Stadtbibliothek und City-Management angedacht. Rosenheim soll nicht nur noch grüner werden, die Stadt soll sogar essbar sein.