Rosenheim – Der Monat ist noch lang und die Haushaltskasse leer. Ersparnisse und Rücklagen sind aufgebraucht. Die Raten für diverse Kredite bleibt man schuldig. Mahnungen und Rechnungen stapeln sich im Briefkasten. In so einem Fall spricht man von Überschuldung. Immer mehr Bürger geraten in diese prekäre Situation, einer aktuellen Studie zu folgen sind es deutschlandweit bereits rund sieben Millionen und im Freistaat 790 000 Menschen, Tendenz steigend. Trotz wirtschaftlicher guter Lage und niedrigster Arbeitslosigkeit seit über 20 Jahren macht sich diese Entwicklung auch in Rosenheim bemerkbar. Die Schuldnerberatung ist voll ausgelastet. Zwischen 350 bis 400 Rosenheimer sind es im Jahr, die sich dorthin hilfesuchend wenden, wenn sie selbst keinen Ausweg mehr sehen, sich aus ihrem Schuldenberg freizuschaufeln.
Schuldenmachen ist salonfähig geworden
Träger der Einrichtung ist die Diakonie. Sozialpädagoge Jürgen Weicker fungiert seit über 20 Jahren als Berater. Neben psychologischen Fähigkeiten und Einfühlungsvermögen braucht er für seine Arbeit auch ein fundiertes Wissen in Wirtschaft und Recht.
Schuldenmachen ist salonfähig geworden und genau darin liegt nach Meinung von Jürgen Weicker die Krux: „Früher war es für Privatpersonen sehr ungewöhnlich, Schulden zu machen. Dieses Problem gibt es erst seit den 70er Jahren.“ Seitdem dränge die Wirtschaft ständig und überall Kredite förmlich auf. „Aus purem Eigennutz. Für unsere Wirtschaft und dem Staat ist es gut, wenn die Menschen Schulden machen. Eigentlich gebührt Schuldnern damit der Verdienstorden“, meint der Sozialpädagoge ironisch.
Auch der Schuldnerberater selbst hat erst kürzlich wieder Schulden gemacht. „In vielen Bereichen geht das auch gar nicht mehr anders, man denke nur an den Kauf eines Autos oder einer Immobilie“, weiß er. So normal es heutzutage ist, Schulden zu haben. Die Akzeptanz der Gesellschaft hört nach Erfahrung von Jürgen Weicker auf, wenn ein Mensch irgendwann seine Schulden nicht mehr zurückzahlen kann: „Das ist nach wie vor ein großes Tabu.“ Dabei kann dieses Schicksal jeden treffen. Krankheit, Scheidung, Arbeitslosigkeit können das Leben von einem auf den anderen Tag gravierend verändern. Selbst Rechtsanwälte und Ärzte hat Jürgen Weicker schon betreut. „Man könnte sagen, das ist dann Jammern auf hohem Niveau, aber das stimmt nicht. Egal, in welcher Lebenslage man sich gerade befindet, Schluss ist, wenn man seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten kann.“
Unter den Klienten finden sich alle Altersstufen. Die Zahl zwischen Frauen und Männer hält sich die Waage. Bei Ehepaaren fällt Jürgen Weicker auf, dass der Anstoß, sich an ihn zu wenden, häufiger von den Frauen ausgeht: „Sie gestehen sich schneller ein, dass sie alleine keinen Ausweg aus ihrem Problem finden.“ Die jüngste Klientin des Rosenheimer Schuldnerberaters war gerade einmal drei Jahre alt. „Das hört sich unglaublich an. Tatsächlich kann aber auch schon ein Baby Schulden haben, beispielsweise durch einen Erbfall oder wenn seine Eltern dem Jobcenter Geld schulden“, so Weicker.
Eine steigende Tendenz stellt er seit einigen Jahren bei alten Menschen fest: „Mit Eintritt in die Rente haben sie auf einmal viel weniger Geld im Monat zu Verfügung.“
Bei manchen Schuldenbergen, mit denen der Schuldnerberater konfrontiert wird, geht es „nur“ um wenige Tausend Euro, manchmal aber auch um mehrere Millionen. Die Vorgehensweise von Jürgen Weicker ist immer die Gleiche: Er verschafft sich zuerst einmal einen Überblick über die Lebenssituation des Betroffenen, schaut, wie es zu den Schulden gekommen ist, und dann wird nach und nach eine Lösung erarbeitet. Raus aus den Schulden sei nicht immer der beste Weg. Ebenso sinnvoll könne es sein, einen Weg zu finden, mit einem gewissen Schuldenstand zu leben. „Man muss immer sehen, was im Einzelfall tatsächlich funktioniert“, so die Erfahrung des Beraters. Einen- Menschen, der gerade am Boden zerstört sei, würde er nie eine Insolvenz empfehlen: „So einen Menschen muss man erst wieder psychisch aufbauen.“
Um erst gar nicht in die Schuldenfalle zu geraten, rät Jürgen Weicker: „Man sollte sich einen Überblick über seine Fixkosten verschaffen, um zu wissen, wie viel Geld einem tatsächlich zum Ausgeben übrig bleibt. Sinnvoll ist außerdem die Führung eines Haushaltsbuches“.
Wer die Übersicht über seine Schulden verloren hat, dem empfiehlt der Sozialpädagoge, sich frühzeitig an eine professionelle Stelle zu wenden. Zu spät für Hilfe sei es aber niemals: „Es findet sich immer ein Weg, wieder ein gutes Leben zu führen.“