Rosenheim – Ein Familienrat wird heute nicht mehr so selbstverständlich einberufen wie früher. Viele Menschen kommen gar nicht auf die Idee, sich bei Überforderung oder Problemen Hilfe von Tante, Cousin oder Schwester zu holen. Die städtische Jugendhilfe setzt dagegen auf den Familienrat. Projektleiterin Andrea Dörries erklärt, warum das so ist.
Der Familienrat entstand vor circa 30 Jahren in Neuseeland. Das Rosenheimer Jugendamt bietet das Projekt hier an. Was ist darunter zu verstehen?
Der Familienrat ist eine Unterstützung für Familien, die sich in einer schwierigen Lebenslage befinden. Es kann zum Beispiel darum gehen, dass es Familienmitgliedern schlecht geht, vielleicht wegen einer Krankheit oder der Trennung der Eltern. Vielleicht ist die Frage, wo ein Kind in Zukunft leben soll. Manchmal geht es um eine zeitweise Betreuung für das Kind, die dringend geregelt werden muss. Meistens schlägt das Jugendamt vor, einen Familienrat durchzuführen. Familienmitglieder können sich aber auch mit einem Problem direkt ans Jugendamt wenden.
Der Familienrat ist ein Treffen, bei dem die Familie selbst, weitere Familienmitglieder und Freunde nach einer guten Lösung suchen für das Problem, das am dringendsten geregelt werden muss. Im Vorfeld wird also festgelegt, zu welcher Frage, oder welcher Sorge sich die Teilnehmenden beraten. Das Wichtigste an der Idee ist, dass den Menschen zugetraut wird, selbst die Lösungen für ihre Probleme zu finden, dass ihnen nicht von Fachkräften gesagt wird, was sie tun oder lassen sollten.
Ein Familienrat stärkt das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Dennoch steht die Familie nicht allein da: Sie bekommt einen Koordinator an die Seite gestellt, wobei der- oder diejenige die Familie dabei unterstützt, ein Treffen mit den Familienmitgliedern und Freunden vorzubereiten.
Wer kann den Familienrat einberufen?
Eltern, die in Rosenheim wohnen, können einen Antrag beim Amt für Kinder, Jugendliche und Familien der Stadt stellen. Der erste Kontakt kann auch gern über das Familienratsbüro unter Telefon 08031/3528067 laufen, dort beantworte ich ganz unverbindlich die ersten Fragen.
Es fällt auf, dass das Jugendamt den Menschen viel zutraut – nämlich Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Hat sich dieser Ansatz bewährt?
Ja, wir haben erlebt, dass die Familien in der Regel gestärkt aus dem Familienrat herausgehen und Pläne erstellen, die die Sorgen aus dem Weg räumen. Es geht nicht darum, dass die Familien alle Dinge selbst ohne professionelle Hilfe tun müssen, sondern sich im Kreise seiner Vertrauten zu beraten und dann eine Entscheidung zu treffen. Oft sind Eltern erstaunt, wie viel Hilfe ihnen aus dem Familien- und Freundeskreis entgegengebracht wird.
Das Besondere am Familienrat: Die Koordinatoren sind keine Fachleute aus der Pädagogik oder Sozialarbeit, sondern Laien. Was bringen diese mit, um die Aufgabe zu stemmen? Welche Rolle übernehmen sie im Familienrat?
Dass die Koordinatoren keine pädagogischen Fachleute sind, ist keine feststehende Bedingung für einen Familienrat, aber in Rosenheim hat man sich dafür entschieden, Bürger-Koordinatoren einzusetzen, welche die Familien bei der Vorbereitung des Treffens unterstützen sollen und sich inhaltlich, also bei der Bearbeitung der Sorge sowie der Suche nach Lösungen, möglichst heraushalten. Gerade das Heraushalten ist eine Sache, die einem professionellen Berater manchmal schwerfällt. Die Koordinatoren müssen vor allem Folgendes mitbringen: Freude am Umgang mit Menschen, Organisationstalent, eine gute Portion Optimismus und die Fähigkeit, sich von den Problemen anderer Menschen abzugrenzen.
Beim Familienrat-Treffen gibt es drei Phasen: In der ersten Phase begrüßt der Koordinator die versammelte Runde. Ein Mitarbeiter vom Jugendamt stellt die Sorge vor und benennt das zu lösende Problem. Wenn Fachleute eingeladen wurden, etwa die Hebamme oder ein Lehrer, erzählen die Fachleute ihre professionelle Sicht auf das Problem. Danach verlassen alle, die nicht Familie oder Freunde sind, den Raum. Die Familie berät unter sich und erstellt einen Plan, wer in Zukunft was tun wird. Es kann auch sein, dass die Beteiligten sich darauf einigen, zusätzlich einen Antrag auf professionelle Hilfe zu stellen oder einen Therapeuten zu beauftragen, um die Sorge vollständig zu bearbeiten. Wenn der Plan steht, werden Koordinator und Mitarbeiter vom Jugendamt in die Runde zurückgerufen. Die Familie stellt den Plan vor und es gibt Zeit für Rückfragen. Es wird besprochen wer überprüft, dass jeder sich an seine Zusagen hält, dass das, was im Plan steht, auch wirklich umgesetzt wird. Dann ist das Familienrat-Treffen beendet.
Der Koordinator erstellt ein Protokoll, das allen Beteiligten später zugesendet wird.
Der Familienrat unterstützt Familien, die sich in einer schwierigen Lage befinden. Es geht in erster Linie um das Wohl von Kindern. Doch Familien haben heute oft viele weitere Probleme, etwa wenn Mitglieder älter werden. Könnte der Familienrat auch tagen, wenn es darum geht, die Pflege für die betagten Großeltern zu organisieren?
Ja, das wäre aus meiner Sicht eine sehr wünschenswerte Entwicklung für Rosenheim, in anderen Regionen wird dies bereits erfolgreich umgesetzt. Viele Menschen kennen die Sorgen, Schuldgefühle und das Gefühl von Überforderung, wenn es darum geht, dass die eigenen Eltern oder Großeltern ihren Alltag nicht mehr voll selbstständig organisieren können.
Der Familienrat ist eine Gelegenheit, in der man mit vertrauten Personen neue, zum Teil überraschende Lösungsansätze entwickeln kann.
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Da ist was dran, wenn man an die früheren Großfamilien denkt, in denen alle Mitglieder mitgeholfen haben beim Erziehen. Heute gibt es diese Strukturen immer seltener. Was tun, wenn ein Familienrat nicht zusammengerufen werden kann, weil es keine zur Mitarbeit bereitstehenden Familienmitglieder gibt? Können auch die beste Freundin oder der Nachbar in den Familienrat berufen werden?
Ja, das Wort „Familienrat“ ist ein bisschen irreführend, gemeint sind nicht unbedingt Verwandte, sondern vertraute Menschen im Umfeld der Familie. Wenn der Koordinator mit den Eltern und dem Kind oder Jugendlichen bespricht, wer am Familienrat teilnehmen soll, sind ein paar Fragen hilfreich: Wer kennt sie am besten? Wem vertrauen sie? Wer ist ihnen wichtig?
Können Sie uns Beispiele nennen, bei denen der Familienrat funktioniert und zur Lösung von Problemen beigetragen hat?
Da gibt es viele Beispiele, im Großen und im Kleinen. Getrennt lebende Eltern haben ihren Streit untereinander für das Familienrats-Treffen hinten angestellt und am Ende eine gute Lösung gefunden, wo die gemeinsame kleine Tochter leben soll und wann sie welchen Elternteil besuchen wird.
Die beste Freundin einer alleinerziehenden Mutter hat ein 13-jähriges Mädchen bei sich aufgenommen, damit die Mutter unbesorgt ein paar Wochen für eine Therapie in ein anderes Bundesland gehen konnte.
Wir haben erlebt, dass ein Junge über längere Zeit bei der Tante wohnte, als es zu Hause nicht mehr möglich war. Eine Unterbringung im Heim wurde dadurch vermieden. Es war auch ein Erfolg, als zwei geschiedene Eltern, die seit mehr als fünf Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten, sich mit ihrem 16-jährigen Sohn gemeinsam an einen Tisch gesetzt haben, um mit ihm über seine Schulproblematik zu sprechen und darüber, wie seine Zukunft aussehen kann.
Kinder und Jugendliche sind häufig sehr beeindruckt, allein durch die Tatsache, dass so viele Leute sich Gedanken um ihr Wohl machen und zusammen helfen wollen. Und das ist in unseren Augen schon etwas ganz Wertvolles.
Interview: Heike Duczek