OVB-Serie „Kunst im öffentlichen Raum“ – Folge 102

„Kostbare Zierde der Stadtpfarrkirche“

von Redaktion

Seit 122 Jahren sitzt die heilige Maria an der Südseite der Nikolauskirche

Rosenheim – Eine liebliche Maria mit mädchenhaft langen blonden Haaren ziert seit 122 Jahren die Südseite der Nikolauskirche. Die Muttergottes sitzt in üppigen Gewändern, die in den für sie typischen Farben rot und blau gehalten sind, auf einem Thron, der gotische Elemente zeigt. Damit orientiert sich die Gestaltung an den neugotischen Fassadenelementen, die die Kirche anlässlich ihrer Erweiterung und Umgestaltung 1886 erhielt.

Der Rosenheimer Apotheker Karl Rieder hatte in seinem Testament verfügt, dass eine größere Summe zur Verschönerung des Kirchplatzes verwendet werden sollte. Die Erben Rieders und das Stadtpfarramt unter Stadtpfarrer Anton Mayer entschieden sich für ein Glasmosaik.

Aufmerksam geworden waren die Rosenheimer auf diese Technik durch Maßnahmen am Königlichen Hof- und Nationaltheater in München. 1894 waren hier die Malereien der beiden Giebelfelder durch haltbarere Glasmosaiken nach dem Entwurf von August Spieß ersetzt worden. Ausgeführt hatte die großflächigen Mosaiken die Firma Compagnia di Venezia e Murano.

Erste Stadt in Bayern mit diesem Glasmosaik

Das wollten die Rosenheimer auch haben. So erhielt August Spieß den Auftrag für den Entwurf und die Compagnia für die praktische Ausführung. Innerhalb von zwei Wochen brachte Herr Sozognie, wie der Rosenheimer Anzeiger am 25. August 1896 berichtet, das Mosaik an. Am Sonntag, 23. August 1896, vormittags um 9 Uhr wurde das Mosaik feierlich enthüllt.

Links hinter der Thronarchitektur öffnet sich der Blick auf Schloss Neubeuern, rechts auf den Wendelstein. Die heilige Maria thront also mitten im Inntal. Auf der rückwärtigen Balustrade hat sich links August Spieß mit seinen Initialen verewigt. Rechts erscheint über dem Stadtwappen von Rosenheim die Jahreszahl 1896. Die Lilien in der Vase verweisen auf die Reinheit und Keuschheit Mariens, Thron, Brokatbaldachin und Krone auf die Himmelskönigin. „Rosenheim ist die erste Stadt in Bayern, welche ein derartiges Glasmosaik in einer Kirche geschaffen hat,“ vermeldete der Rosenheimer Anzeiger stolz.

Es ist einem italienischen Rechtsanwalt aus Vicenza zu verdanken, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Glasmosaik, wie es über tausend Jahre im Kirchenbau gepflegt wurde, wieder beliebt und vor allem bezahlbar wurde. Dottore Antonio Salviati (1816 bis 1890) hatte 1859 seine Kanzlei geschlossen und auf Murano die Compagnia di Venezia e Murano gegründet.

Salviati entwickelte die Methode des „Indirekten Setzens“. Nun wurden die Glasplättchen für die Wandmosaike nicht mehr direkt vor Ort von Künstlerhand einzeln in den weichen Mörtelgrund gedrückt, sondern in der Werkstatt in größeren Partien vorbereitet.

Dafür wurden die Plättchen mit der Vorderseite nach unten auf die Entwurfszeichnung gelegt. Auf der Rückseite wurde dann für den Transport ein Papier aufgeleimt. Am Bau mussten nur noch die handlichen Teile entsprechend einem Plan eingepasst und anschließend das Papier gelöst werden. Dafür waren nicht unbedingt Künstler notwendig. 1877 stieg Salviati aus der Compagnia aus und gründete weitere Firmen. Unter englischer Leitung, Salviati hatte 1866 die beiden Altertumskenner Austen Henry Layard und Sir William Drake aus finanziellen Gründen mit in die Compagnia hereingenommen, arbeitete die Glas- und Mosaikfirma sehr erfolgreich weiter und präsentierte sich auf den Weltausstellungen in Paris (1878) und Chicago (1893).

Das Werk

„Heilige Maria auf dem Thron“, 1896, Glasmosaik, Höhe 300 Zentimeter, Breite 230 Zentimeter; Stadtpfarrkirche St. Nikolaus, Ludwigsplatz, Rosenheim.fie

Der Künstler

Der Historienmaler August Spieß wurde 1841 in München als Sohn des aus Franken stammenden Kupferstechers August Friedrich Spieß (1806 bis 1855) geboren und verstarb 1923 auch hier. 1857 bis 1859 besuchte er die Münchner Kunstakademie und studierte unter anderem bei dem Historienmaler Philipp Foltz. Spieß gehörte in das Umfeld der Münchener Hofkünstler um König Ludwig II. Dieser betraute den Maler und Freskanten mit der Ausschmückung seiner Schlösser Neuschwanstein („Tristan und Isolde“, Schlafzimmer, 1881; „Parzival“, Sängersaal, 1883/84), Linderhof (Deckengemälde „Apotheose König Ludwigs XIV. von Frankreich“, Schlafzimmer, 1884) und Herrenchiemsee (Deckengemälde „Imperatorenbüsten“, Spiegelsaal, 1885). Schließlich freskierte Spieß im Jahr 1900 die Gedächtniskapelle für Ludwig II. in Berg am Starnberger See aus. Spieß arbeitete bis zu seinem Tod mit seinem Bruder Heinrich (1832 bis 1875) zusammen. So gestalteten die beiden die Fresken in der offenen Vorhalle des Maximilianeums (1874). Zusammen mit anderen Historienmalern schuf Spieß 1881 für den Großen Rathaussaal in Landshut Szenen aus dem Festzug der „Landshuter Hochzeit“ von 1475. Der Künstler zählt zu den herausragenden Historienmalern Münchens im ausgehenden 19. Jahrhundert. Seine großformatigen Wand- und Deckengemälde überzeugen durch eine klare Komposition. Spieß orientierte sich bei der Gestaltung von Details wie Kleidung, Waffen oder Schmuck an historischen Vorbildern. fie

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