Rosenheim – „7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Davon ist der größte Teil deutschstämmig und im erwerbsfähigen Alter“, so Katharina Gaiduk. Die 37-Jährige ist Projektleiterin im Mehrgenerationenhaus der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Kreisverband Rosenheim, welche die Alpha-Sprechstunde anbietet. Der Fachbegriff lautet funktionaler Analphabetismus. „Es gibt verschiedene Stufen. Manche der Betroffenen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, aber keine zusammenhängenden Texte verstehen“, fährt Gaiduk fort.
60 Prozent:
Berufstätig
und männlich
60 Prozent aller funktionalen Analphabeten sind Männer, ein Drittel der Betroffenen ist derzeit zwischen 50 und 64 Jahre alt. 40 Prozent besitzen keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss. 60 Prozent der funktionalen Analphabeten gehen einem Beruf nach, knapp 17 Prozent sind arbeitslos.
Die Ursachen leiten sich laut den Experten aus einem Mix aus „ungünstigen Faktoren“ ab. „Im Lebensabschnitt, in dem Lesen und Schreiben gelernt wurde, haben diese Menschen eine stressige Phase erlebt“, so die Projektleiterin. Scheidung der Eltern, häufige Schulwechsel oder zu spät erkannte Seh- oder Hörschwierigkeiten sind nur einige der Ursachen. „Es ist wichtig, zu wissen, dass es sich bei funktionalen Analphabeten oft um intelligente Menschen handelt, die einfach sehr schlechte Lernerfahrungen gemacht haben“, erklärt Gaiduk.
Lese- und Schreibschwächen sind für viele Arbeitgeber ein Grund zur Nichteinstellung. Doch oftmals sind diese vollkommen ahnungslos. „Funktionale Analphabeten mogeln sich oft durch und haben gute Fähigkeiten entwickelt, durch den Alltag zu kommen“, so Gaiduk.
Im Restaurant wird das Gleiche bestellt wie beim Tischnachbarn, beim Formular ausfüllen kommt des Öfteren die Ausrede „Ich habe meine Brille vergessen, können Sie das schnell für mich ausfüllen“ und bei diversen Arbeitsanweisungen wird einfach noch mal beim Kollegen nachgefragt.
„Viele empfinden Scham und wollen ihre Schwäche nicht zugeben“, bedauert die Projektleiterin und fügt hinzu: „Das liegt auch daran, dass gar nicht bekannt ist, wie viele andere Menschen vor der gleichen Herausforderung stehen.“ Ein Grund dafür, dass die Alpha-Sprechstunde ins Leben gerufen wurde. „Wir wollen Rosenheim für das Thema sensibilisieren“, so Gaiduk. Bei der offenen Sprechstunde, die immer mittwochs zwischen 15 und 16 Uhr stattfindet, kann jeder anonym vorbeikommen. Das Problem: Betroffene nehmen dieses Angebot bis jetzt noch nicht wahr. „Menschen, die nicht gut lesen können, gehen nicht auf komplizierte Internetseiten und wissen daher gar nicht, dass es so ein Angebot überhaupt gibt“, bedauert Gaiduk. In Zahlen sieht das so aus: Weniger als ein Prozent der Betroffenen nimmt deutschlandweit an entsprechenden Grundbildungskursen teil. Momentan arbeitet die Projektleiterin an Flyern in einfacher Sprache, die für funktionale Analphabeten verständlich sind.
Stadtbibliothek:
150 Medien in einfacher Sprache
Auch die Stadtbibliothek setzt sich immer mehr für Medien in einfacher und leichter Sprache ein. Ein Aufsteller im zweiten Stock weist auf ein großes Literaturangebot hin.
Die Erklärung: Um funktionalen Analphabeten das Leben einfacher zu machen, gibt es die leichte und einfache Sprache. Bei der leichten Sprache werden kurze Hauptsätze und bekannte Wörter verwendet. Es gibt ein klares Schriftbild und nach jedem Satzabschnitt wird ein Absatz gemacht. Bei der einfachen Sprache werden auch schwierigere Begriffe genutzt. Die Sätze hier sind länger und Absätze sind seltener.
„Wir haben momentan 150 Medien in einfacher und leichter Sprache“, so Bettina Sölch, Mitarbeiterin in der Stadtbibliothek und fügt hinzu: „Es kommt sehr gut an.“
Katharina Gaiduk zeigt sich erfreut über dieses Engagement. „Ich bin begeistert. Es ist wichtig, dass wir alle an einem Strang ziehen.“