Rosenheim – Zweieinhalb Stunden mussten die 200 Bürger, die in der Panger Schulturnhalle nicht alle einen Sitzplatz fanden, warten, bis sie endlich mit ihren Fragen an der Reihe waren. Was sie umtreibt, hatten viele auf Protestplakaten und Bannern kundgetan: die Sorge, ein Nordzulauf mit Verbindungs- und Verknüpfungsstellen auf Rosenheimer Gebiet könne das Landschaftsbild verschandeln, wertvollen landwirtschaftlichen Grund zerstören, Immobilien entwerten, weiteren Lärm produzieren – kurzum, so CSU-Stadtrat Josef Kaffl: „Unsere Heimat zerstören.“
Die Grobtrassenentwürfe sind, so betonte der Projektleiter der DB, Torsten Gruber, erste Vorschläge. Sie werden 2019 noch ergänzt, geprüft und bewertet, um Ende 2019/2020 zu einem Trassenvorschlag zu kommen. Die Rosenheimer sind jedoch alarmiert – mit Recht, wie Baudezernent Helmut Cybulska in einem mit viel Applaus bedachten Vortrag aufzeigte: Unter den Trassengrobentwürfen gibt es mögliche Streckenführungen, die den Rosenheimer Süden und Norden betreffen: Es könnte quer über die seit Jahren von Bebauung freigehaltenen Panger Felder gehen, durch die Flora-Fauna-Habitat-Gebiete an Kalten und die Rosenheimer Stammbeckenmoore, entlang an Siedlungsbereichen von Pang, Am Wasen und Westerndorf St. Peter, mit möglicher Querung von Schwaig, Mangfall und Aicherpark mit seiner Seetonproblematik. Es gibt Anbindungsvarianten in Happing und Pang, und den Grobtrassenentwurf mit der Variante Stephanskirchen, der Langenpfunzen und Wernhardsberg betrifft. „Es gibt viele Konfliktpunkte“, so das Fazit von Cybulska. „Vorschläge, die knirschen“, nannte dies Dr. Hermann Biehler, der die Stadt als Experte des Rosenheimer Forums für Städtebau und Umweltfragen im Gemeindeforum Rosenheim Süd vertritt. Und Josef Gilg, der im Gremium als Bauernobmann für die Landwirtschaft Mitglied ist, sprach von einer „Katastrophe“ für Rosenheim, schließlich sei die Kommune als zweitkleinste kreisfreie Stadt in Bayern bereits jetzt stark zusätzlich belastet durch Autobahn, Westtangente und Gewerbegebiete. Wertvoller Grund und Boden für die Landwirtschaft und die Naherholung dürften für das Megaprojekt nicht geopfert werden.
Cybulska zeigte jedoch auch auf, dass noch mehr Züge auf der Bestandsstrecke mit den Lärmschutzansprüchen der Anlieger schwer vereinbar seien. Laut Lärmaktionsplan der Bahn ist der Knoten Rosenheim bereits heute in der höchsten Belastungsstufe eingeordnet: 20000 bis 30 000 Fernverkehrs- und über 40000 Güterzüge pro Jahr: Das belastet tagsüber 10000 Bürger in Rosenheim, nachts sogar 16000.
„Es geht nicht um
das Ob, sondern
um das Wie“
Torsten Gruber, DB-Projektleiter
Trotzdem: Viele Bürger stellten bei der Anhörung im Anschluss an die Stadtratssitzung den Bedarf für eine Neubaustrecke infrage. Bahn-Projektleiter Gruber verwies auf den Bundesverkehrswegeplan als Grundlage für den Dialogprozess. „Der Bedarf ist keine Frage im Trassenauswahlverfahren. Dort geht es nicht um das Ob, sondern nur um das Wie.“ Und hier hat im Planungsdialog die Industrie- und Handelskammer (IHK) als Vertreterin der Wirtschaft eingehakt: In den Kriterienkatalog für die Auswahl von Grobtrassenentwürfen forderte sie nicht nur, dass sich keine Verschlechterungen für die Pendler ergeben, sondern auch, dass der Tourismus als zu berücksichtigendes Kriterien aufgenommen wird, erläuterte der Geschäftsführer für München und Oberbayern, Wolfgang Janhsen.
Um die Hauptfrage des Abends nach dem Warum zu klären, hätte der Stadtrat, der auf Anfrage der Grünen mit FDP und ÖDP tagte, gerne einen Vertreter des Bundesverkehrsministeriums gehört. Doch gekommen war niemand. Eine Steilvorlage für den SPD-Fraktionsvorsitzenden Robert Metzger: „Das Ministerium duckt sich weg, den schwarzen Peter hat die Bahn.“
Die Rosenheimer können jedoch differenzieren – und die Vertreter im Gemeindeforum stellten der Bahn ein gutes Zeugnis aus. „Konstruktiv“ sei die Arbeit im Dialogprozess, betonte Biehler. Die Bahn habe einen Auftrag und arbeite ihn ab. Wer die Sinnhaftigkeit des Nordzulaufs zum Brennerbasistunnel überprüft haben wolle, müsse sich an die Politik wenden. Diese habe die Möglichkeit, an den Rahmenbedingungen zu drehen – etwa, indem das vorgesehene Tempo der Güterzüge reduziert werde. Die Zulaufstrecke hat in der Tat zwei Vorgaben, die dafür sorgen, dass die Grobtrassenentwürfe so landschaftszerschneidend ausfallen: Die Züge sollen maximal nur Steigungen von 12,5 Promille nehmen und mindestens 230 Kilometer in der Stunden schaffen: Das führt zu flachen und sehr langen Kurven.
DB-Projektleiter Gruber bestätigte, dass die Bestandsstrecke mit gut 100 Zügen pro Tag durchaus noch Luft nach oben hat, was die Kapazitäten angeht. Doch der Nordzulauf wird frühestens 2038 in Betrieb gehen, die jetzigen Gleise müssen also bis dahin den nach Eröffnung des Tunnels steigenden Güterverkehr aufnehmen können.
Obwohl sich in der Sondersitzung und Bürgeranhörung deutlich herauskristallisierte, dass es nicht mehr um das Ob, sondern längst nur noch um das Wie geht, forderten viele nach wie vor eine Abkehr vom Gesamtprojekt. „Der Staatsvertrag lässt sich auch kündigen“, betonte Franz Opperer, Stadtrat der Grünen. „Wir brauchen das Projekt nicht“, zeigte sich Abuzar Erdogan (SPD) überzeugt. Außerdem positionierten sich unter anderem die Stadträte Margarete Fischbacher, Josef Gasteiger und Georg Soyer (CSU), die von Grobtrassenentwürfen betroffene Ortsteile vertreten, mit Kritik an den Vorentwürfen. Was die Bürger zudem beschäftigt: eine mögliche Gefahr für die barocke Rundkirche am Wasen.
Die Nachfragen aus Politik und Bürgerschaft zeigten deutlich, dass es die Zahlen, die für den Bedarfsbeweis gewünscht werden, wohl erst in der Planfeststellung geben wird. Spätestens dann muss die Notwendigkeit des dritten und vierten Gleises genau nachgewiesen werden, erläuterten Bauer und Gruber.
CSU-Stadtrat Daniel Artmann unterstrich die Notwendigkeit, möglichst viele Bereiche zu untertunneln. Eine unterirdische Führung ist jedoch überall dort, wo Verknüpfungsstellen für den Wechsel von der Bestands- auf die Neubaustrecken entstehen, nicht möglich, erläuterte der Projektleiter. Der Geschäftsführer des Kreisbauernverbandes, Josef Steingraber, warnte auch in seiner Rolle als Panger Landwirt vor einer Gefährdung der dortigen Felder. Nach Überzeugung von Bauernobmann Martin Grießer müssen bei den Bürgern in der Tat die Alarmglocken klingeln: Schließlich sei eine mögliche Trasse durch die Felder die kürzeste Verbindung zwischen der Bestandsstrecke im Norden und Brannenburg im Süden.
Deutlich wurde auch: Die Rosenheimer fühlen sich als Spielball einer europaweiten Verkehrs- und Wirtschaftspolitik. Biehler zeigte das Schreckgespenst einer Verlagerung des Seeverkehrs auf die Schiene im Korridor zwischen den Häfen im Süden und Skandinavien auf.
Viele Rosenheimer forderten grundlegende Überlegungen zu einer Neuausgestaltung des Transitverkehrs und sahen die Politik in der Pflicht. CSU-Stadtrat Andreas März gab die Verantwortung an jeden Einzelnen weiter: Denn die Just-in-Time-Produktion löse eine Zunahme des Güterverkehrs aus. „Wer bei Amazon-Prime Produkte bestellt, die am nächsten Tag geliefert werden sollen, muss wissen, dass das nur per Lkw geht.“