Rosenheim – Sucht ist keine Einbahnstraße in Richtung Tod. Im Gegenteil. In der Forschung ist in den vergangenen Jahren viel passiert. Heute steht fest: Sucht ist nicht eine Frage des Willens. Sucht ist eine Krankheit, die sich überwinden lässt. Dies ist auch Fazit des Rosenheimer Suchthilfetags, an dem mehr als 700 Menschen, zumeist Fachleute, teilgenommen und gemeinsam diskutiert haben. Warum aber allein Hilfe von Außen einen Süchtigen nicht heilen kann, erklärt Ludwig Binder, Geschäftsführer der „Neon – Prävention und Suchthilfe Rosenheim“, einer der Organisatoren des Suchthilfetages.
Herr Binder, zwei von drei Alkoholabhängigen überwinden die Sucht. Sie können sich selbst heilen. Ein Forschungsergebnis, das der renommierte Suchtforscher Gallus Bischof von der Uni Lübeck in Rosenheim vorgestellt hat.
Man hat ja schon lange erkannt, dass Sucht eine Krankheit ist, keine Willensschwäche. Es hat eine Entstigmatisierung stattgefunden, das ist gut. Doch es gibt auch eine Kehrseite: Der Süchtige kann die eigene Verantwortung wegschieben. Er verweist auf seine Krankheit, tut, als habe sie nichts mit ihm zu tun. Als sei er ihr ausgeliefert.
Sie meinen, die Sucht ist Symptom und die Ursachen liegen an anderer Stelle?
Natürlich gibt es eine stoffliche Abhängigkeit des Körpers. Aber doch erst, wenn etwa der Alkoholkonsum chronisch geworden ist. Was die Menschen oft nicht bedenken: Sie müssen sich fragen, wo ihre Sucht herkommt, warum sie zu Alkohol oder Drogen greifen. Erst, wenn sie diese Ursachen finden, diese Probleme lösen, dann sind sie frei.
Ist es das, was Sie bei „Neon“ vermitteln, wenn sich Betroffene an Sie wenden?
Wir haben vor allem mit Alkoholmissbrauch zu tun, aber auch mit illegalen Drogen und Partydrogen. Unsere Erfahrung ist: Wenn es um Alkohol, Cannabis und Kokain geht, dann liegt die Abhängigkeit nicht am Stoff, sondern an den Lebensumständen der betroffenen Person.
Was sind das für Lebensumstände, die in die Sucht treiben können?
Das Spektrum ist sehr groß. Wer früh schwere seelische Schäden erlitten hat, gerät in der Regel früh in eine Abhängigkeit. Diese Menschen sind oft schon als Kinder traumatisiert. Aber das ist der kleinere Teil. Viel eher ist heute die Mittelschicht betroffen. Menschen mit einem guten sozialen Umfeld. Sie spüren den Druck im Job, in der Gesellschaft. Sie erleben Ängste. Und um damit klar zu kommen, trinken sie abends zwei, drei Bier. Aus denen werden häufig nach und nach fünf oder sechs. Das steigert sich.
Diese Menschen nehmen Alkohol und Drogen, um ihre Probleme zu vergessen?
Sie haben keine Strategie, mit der sie ihre Probleme bewältigen können. Um eine solche zu entwicklen, müssten sie herausfinden, was die Sucht mit ihnen, mit ihrer Persönlichkeit zu tun hat. Und dazu brauchen sie psychotherapeutische Hilfe.
Hier wäre „Neon“ eine der Anlaufstellen in Rosenheim. Was erlebt der Süchtige, wenn er zu „Neon“ kommt?
Zunächst einmal bieten wir eine kostenlose und vor allem offene Beratung an, für den Betroffenen, aber auch für die Angehörigen. Dann versuchen wir, die beste Lösung für den weiteren Weg zu finden. Das kann eine ambulante Therapie sein. Wenn die Sucht schon chronisch, steht es um die Heilung allerdings schlecht. Dann geht es eher darum, eine weitere Verschlechterung des psychischen und physischen Zustandes zu verhindern. In so einem Fall kann „Anthojo“in Rosenheim die richtige Anlaufstelle sein.
Wenn sich ein Süchtiger tatsächlich auf den Weg macht, seine Probleme zu ergründen, was kann er gewinnen?
Er kann sich als Mensch weiterentwickeln. Erkennen, dass es seine Aufgabe ist, sich selbst zu erkennen. Wenn es ihm gelingt, die Ursachen zu erkennen und sich ihnen zu stellen, kann er sich das zugute halten. Das steigert sein Selbstbewusstsein. Ein wichtiger Aspekt, denn Süchtige fühlen sich häufig elend. Sucht hat ein schlechtes Image. Wer süchtig ist, gilt als Versager.
Dabei scheint es so, als habe sich der Umgang mit Sucht, auch unter Fachleuten, verändert. Es macht den Eindruck, als falle der Blick weniger rigoros aus. Noch in den frühen 1990er-Jahren hieß es doch: Der Süchtige muss ganz unten ankommen, ehe er sich auf den Weg machen kann in ein Leben ohne Sucht. Und Angehörige sollten einen Suchtkranken unbedingt fallen lassen
Es hat auf jeden Fall eine Entwicklung gegeben. Früher war es undenkbar, dass ein Polizist mit einem Drogenberater spricht. Heute haben wir in Rosenheim eine ganz andere Gesprächskultur. Das hat sich auch beim Suchthilfetag gezeigt: Der Polizist, der Drogenberater, Vertreter von Medizin und Justiz – alle kommen zusammen und sprechen miteinander. Auf rein fachlicher Grundlage. Es gibt eine Aufbruchstimmung im Hilfesystem.
Interview: Ilsabe Weinfurtner