Waldorfschule: Raus aus der Nische

von Redaktion

Namen tanzen und Bäume umarmen: Klischees über Waldorfschulen gibt es viele. 100 Jahre nach der Gründung der ersten Einrichtung gibt es in Deutschland knapp 240 Schulen mit 85000 Schülern. Die Rosenheimer Waldorfschule feiert heute ihr 20-jähriges Bestehen.

Rosenheim – Benjamin Weber (26) erinnert sich gerne an seine Schulzeit und an den Moment, als er vor 20 Jahren zum ersten Mal das Klassenzimmer in der Waldorfschule betritt. Er blickt in die Gesichter seiner Mitschüler, lernt seinen Lehrer kennen und fühlt sich von der ersten Sekunde an geborgen.

Weber gehörte zum ersten Jahrgang an der Rosenheimer Waldorfschule. Im Jahr 2012 machte er sein Abitur. Die Entscheidung, den Buben an diese Schule zu schicken, trafen seine Eltern. In ihrem Aufnahmeantrag heißt es: „Wir wünschen uns, dass das Lernen nicht auf Lesen, Schreiben und Rechnen beschränkt ist, sondern, dass Freude am Lernen, Kreativität, handwerkliche Fertigkeiten und Geisteshaltung vermittelt werden.“

Die Wünsche der Eltern und das Konzept der Schule stimmten überein. Weber verbrachte die nächsten 13 Jahre an der Rosenheimer Waldorfschule. Statt wechselnden Lehrern begleitete ihn sein Klassenlehrer für viele Jahre.

„Wir bilden eine Konstante im Leben der Schüler und sorgen für ein beständiges Umfeld. Nur dann können sich die Schüler entfalten“, sagt Lehrerin Ulrike Altenried. Die 58-Jährige ist seit 17 Jahren in Rosenheim tätig. Sie bezeichnet sich selbst als Erziehungskünstler. „Ich muss immer eine Zeitgenossin der Kinder bleiben, wandelbar sein und mich ständig weiterentwickeln.“ Klassenlehrer an der Waldorfschule unterrichten ein breites Spektrum an Fächern: Malen, Schreiben, Lesen, Singen, Heimatkunde, Deutsch, Geschichte, Mathe, Biologie, Physik, Chemie oder Astronomie. Lehrbücher für die Lehrer gibt es keine. „Ich arbeite mich zu Hause ein“, sagt Altenried. Sie nimmt an Fortbildungen teil, tauscht sich mit Kollegen aus und versucht, den Unterricht immer wieder neu zu gestalten. In einer zusätzlichen Ausbildung nach dem Studium lernte sie, sich auf fachfremde Themen so einzuarbeiten, dass sie diese qualifiziert unterrichten kann. Das Prinzip bleibt für alle Fächer gleich: Immer wird vom Menschen ausgegangen.

Fächer, die nicht vom Klassenlehrer unterrichtet werden, übernehmen die Fachlehrer. Von der ersten Klasse an werden zwei Fremdsprachen gelehrt – Englisch und Französisch. „Wir leben in der Sprache. Es wird gesungen und viel gereimt“, sagt die Geschäftsführerin der Schule, Susanne Zeisig.

Und nicht nur sprachlich überzeugen die Waldorfschüler. Ab der ersten Klasse lernt jedes Kind ein Musikinstrument, meist Flöte oder Leier. Auch Fächer wie Religion, Turnen und Eurythmie sind ein Teil des Stundenplans. Eurythmie ist eine Bewegungskunst. Es gibt für jeden Buchstaben und jeden Ton eine bestimmte Gebärde. In diesem Zusammenhang steht auch das Tanzen des eigenen Namens. „Wir fördern den Mensch in seiner Gesamtheit und nicht nur seine Stärken“, sagt Ulrike Altenried. Wer also zum Beispiel eine Niete im Rechnen ist, überzeugt vielleicht im Schmieden oder Ackerbau.

Eine weitere Besonderheit in den Waldorfschulen: Noten gibt es nicht, Sitzenbleiben ist somit ausgeschlossen. „Wir legen Wert darauf, dass die Klassengemeinschaft zusammenbleibt“, sagt Altenried. Bis zur achten Klasse gibt es deswegen nur ein Wortzeugnis, in der Oberstufe wird mit Punkten gearbeitet. Ein Konzept, das auch viele staatliche Schulen für sich entdeckt haben.

Nach der zehnten Klasse entscheiden sich die Waldorfschüler, welchen Weg sie einschlagen möchten – Abitur oder mittlere Reife. Das Abitur ist das gleiche wie an staatlichen Schulen. „Wir haben mittlerweile schon den achten Abiturjahrgang. Zweidrittel unserer Schüler entscheiden sich für diese Variante“, sagt Susanne Zeisig.

Wer die Waldorfschule erfolgreich beendet, bekommt außerdem ein Abschlussportfolio. Kunstfahrten nach Italien, eine Alpenüberquerung, ein Landwirtschaftspraktikum, ein Fremdsprachentheater in der elften Klasse sowie ein Sozialpraktikum in einer Einrichtung mit Seelenpflegebedürftigen werden im Portfolio dokumentiert und für die Ewigkeit festgehalten. „Wir sind die erste bayerische Waldorfschule, die so etwas anbietet“, sagt Zeisig.

Auch Benjamin Weber hat ein solches Portfolio. Wenn er an seine Schulzeit denkt, fallen ihm zuerst die Freundschaften ein, die er über die Jahre geschlossen hat. Er erinnert sich an die Projekte und zahlreiche Auftritte. Nach dem Abitur erkundete er erst einmal die Welt. Er leitete Wanderungen für den Alpenverein, gibt Kletterkurse und arbeitet in Autowerkstätten. Später studierte er „Friedens- und Konfliktforschung“ in Schweden und arbeitete in einem Museum in Sarajevo. Pünktlich zur Jubiläumsfeier ist er zurück in Rosenheim.

Seine Entscheidung auf die Waldorfschule zu gehen, hat er nie bereut. „Ich hatte nie das Gefühl, irgendwelche Probleme zu haben. Ich denke, aufgrund einer Bildung, die viele Teilbereiche des Lebens umfasst hat, wurden mir Türen geöffnet, die ich sonst vielleicht nicht entdeckt hätte.“

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