„Wohnen für Hilfe“: Zweiter Versuch

von Redaktion

Initiatoren wollen Projekt vorantreiben und Vorurteile bei Senioren abbauen

Rosenheim – Wohnen für Hilfe: Senioren lassen Studenten bei sich wohnen. Dafür übernehmen die Studenten kleine Arbeiten in Haus und Garten. In vielen deutschen Städten läuft dieses alternative Wohnmodell erfolgreich, doch es gibt auch Rückschläge. Häufig überwieg die Skepsis der Senioren. In Rosenheim startet ein zweiter Anlauf für das Projekt.

Im besten Fall ist „Wohnen für Hilfe“ eine Win-Win-Situation für beide Parteien: Die Senioren müssen keine teuren Hilfsdienste anheuern und vereinsamen nicht. Die Studenten wohnen kostenlos oder zumindest für eine günstige Monatsmiete vergleichsweise komfortabel in familiärer Atmosphäre.

Mittlerweile gibt es „Wohnen für Hilfe“ bereits in 25 deutschen Städten. Tendenz steigend. Klaus Schindler, Bereichsleiter Soziale Dienste beim AWO-Kreisverband Rosenheim, begeisterte sich für dieses Konzept schon vor einigen Jahren. Damals war er als Projektleiter im Mehrgenerationenhaus tätig. Doch die Realisierung scheiterte. „Aufgrund fehlender Ressourcen. Um so ein Projekt zum Laufen zu bringen, braucht es Zeit und Menschen, die es koordinieren können“, sagt Schindler.

Miete zehrt am

Budget der Studenten

Jetzt soll es besser funktionieren. Das Mehrgenerationenhaus bekommt diesmal Unterstützung vom Rosenheimer Seniorenbeirat, dem Verein „Pro Senioren“ und der studentischen Vertretung der Technischen Hochschule Rosenheim. Um die feste Absicht zu untermauern, wurde eine Absichtserklärung verfasst. Unterschrieben haben sie Katharina Gaiduk, Nachfolgerin von Klaus Schindler im Mehrgenerationenhaus, Brigitte Kutka, stellvertretende Vorsitzende des Seniorenbeirats Rosenheim, die Architektin und Stadträtin der Freien Wähler/Up Christine Degenhart, die auch Leiterin des Arbeitskreises Neue Wohnformen von „Pro Senioren“ ist, und vom Studentenvertreter Michael Sever.

Sever kennt die Situation der knapp 6000 Studenten in Rosenheim sehr genau. „Wohnraum zu erschwinglichen Preisen wird immer knapper“, sagt er.

Höchstens 730

Euro BAföG

Der BAföG-Höchstsatz liegt derzeit bei 730 Euro pro Monat. „Wenn davon 400 bis 450 Euro für Miete weggehen, bleibt kaum noch was übrig, für Essen, Kleidung, geschweige denn für die Freizeit.“ Besonders schwierig sei die Situation immer zu Studienbeginn. Viele Studenten stünden alternativen Wohnmodellen deshalb offen gegenüber. Besonders diejenigen, die aus dem Ausland kommen, können nach Meinung von Sever von dem Projekt profitieren: „Sie können Kontakte zu Einheimischen knöpfen und müssen auch in einem fremden Land nicht gänzlich auf familiäre Atmosphäre verzichten.“

Alt und Jung zusammen zu führen, ist aber alles andere als einfach. Das Interesse der Studenten ist zwar da, aber viele Senioren begegnen dieser Idee mit Skepsis.

„Viele haben Bedenken, sich fremde Menschen ins Haus zu holen“, sagt Christine Degenhart. Klischees von jungen Menschen, die statt zu lernen, lieber feiern und für die Ordnung ein Fremdwort ist, würden dabei sicherlich eine Rolle spielen.

Um solche Vorurteile abzubauen und Jung und Alt in Kontakt zu bringen, sollen Studenten der Technischen Hochschule Rosenheim immer wieder einmal an Veranstaltungen von Seniorenbeirat, „Pro Senioren“ und Mehrgenerationenhaus teilnehmen, um auf diese Weise mit der älteren Gesellschaft in lockerer Form in Kontakt zu kommen und den einen oder anderen vielleicht auch für das Projekt zu begeistern.

Ob sich „Wohnen für Hilfe“ im zweiten Anlauf erfolgreich in Rosenheim etablieren lässt, wird sich erst im Laufe der kommenden Jahre zeigen. Nicht in allen Städten funktioniert dieses Konzept gleich gut, berichtet Brigitte Tauer, die „Wohnen für Hilfe“ für die Stadt München vom Seniorentreff Neuhausen aus koordiniert und betreut. Oft fehlen die Ressourcen.

„Man muss dafür viel Zeit und Kraft investieren“, sagt sie. In der Stadt München wurden deshalb bereits zwei festangestellte Halbtagskräfte eingesetzt, für den Landkreis München ist mittlerweile eine weitere Halbtagskraft angestellt.

In Freising etwa, Hochschulstadt wie Rosenheim, wurden seit 2015 im Schnitt drei bis vier Studenten pro Jahr vermittelt. Eine höhere Vermittlungs- beziehungsweise Teilnehmerzahl wäre sicherlich wünschenswert, teilt das Landratsamt dort mit. Allerdings seien die „mentalen Barrieren bei möglichen Wohnraumgebern noch hoch und der Fokus sehr auf mögliche Risiken gerichtet“. In der Summe habe das Projekt „eher experimentellen Charakter“. Kosten immerhin hat die Stadt nach Angaben des Landratsamtes nicht zu tragen, das in Freising das Projekt in eine bestehende Planstelle integriert worden ist.

Eine Stunde Hilfe

pro Quadratmeter

Auf ehrenamtliches Engagement zu setzen, zahle sich in der Regel nicht aus, meint Brigitte Tauer. In Städten, in denen „Wohnen für Hilfe“ auf dieser Basis angelaufen sei, gebe es häufig Probleme. Einzige ihr bekannte Ausnahme ist Münster: „Aber da ist die Stadt auch relativ klein und der Ehrenamtliche, der dort im Einsatz ist, ist sehr bekannt in der Stadt und kann schon dadurch viel bewegen.“

In München hat sich „Wohnen für Hilfe“ seit dem Start vor 20 Jahren nach Auskunft von Brigitte Tauer gut etabliert. Aktuell gibt es rund 80 Wohnpartnerschaften. Von Mietverhältnissen spricht sie bewusst nicht.

Die Studenten zahlen zwar in der Regel eine Pauschale für die Nebenkosten, eine Miete fällt für sie aber nicht an. Sie „bezahlen“ mit Engagement. Gerechnet wird zumeist mit einer Stunde Hilfe pro Quadratmeter Wohnfläche – 20 Quadratmeter Wohnfläche bedeuten demnach 20 Stunden Arbeit für den Studenten. „Mehr wäre nicht machbar. Die Studenten müssen ja lernen und wollen daneben auch etwas Freizeit haben“, sagt Brigitte Tauer. Die Art der Hilfe ist dabei eng gefasst. Pflegetätigkeiten fallen nicht darunter. Der Arbeitseinsatz der Studenten beschränkt sich meistens auf Einkäufe, Gartenarbeiten oder den Hausputz. Vielen Senioren sei es sowieso am wichtigsten, dass mit den Einzug der jungen Leute wieder Leben in ihr Haus oder in ihre Wohnung kommt und sie sich dadurch sicherer und weniger einsam fühlen.

Studenten haben

mehr Verantwortung

Und doch gilt: Dieses Wohnmodell ist nicht für alle Senioren und auch nicht für alle Studenten geeignet. „Wer über 30 Jahre seines Lebens allein verbracht habe, für den sei es nicht einfach, sich plötzlich an einen Mitbewohner zu gewöhnen, der ganz andere Gewohnheiten hat, als man selbst, sagt Tauer.

Die jungen Studenten wiederum müssten sich darüber im Klaren sein, dass diese Zusammenleben etwas ganz anderes ist als in einer Studenten-WG: „Die jungen Leute übernehmen damit auch mehr Verantwortung.“

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