Rosenheim/Aschau – Aus einem Buch (Utopia Toolbox.1) mit dem Untertitel: „Eine Anstiftung zur radikalen Kreativität“ entwickelte sich quasi als Selbstläufer ein international vernetztes Kunstprojekt, die „Utopia Toolbox“. Dahinter verbirgt sich ein Zusammenschluss von Menschen unterschiedlicher Berufssparten. Teils sitzen sie in Detroit, teils in Taipeh (Hauptstadt von Taiwan), in Rosenheim, Augsburg, München und Aschau – aber alle eint die Idee, Fantasie und Schöpfertum in der Gesellschaft hervorzulocken.
Frau vermietet einen Stuhl vorm Rathaus
Ein Beispiel aus einem kleinen württembergischen Dorf mit 80 Einwohnern: In einem aufgebauten Container von Utopia Toolbox erhielten interessierte Besucher die Aufgabenstellung, Geld zu sammeln. Dabei ging es nicht um die Moneten, sondern um Kreativität, wie dies umgesetzt wird. Eine Frau stellte sich auf den Marktplatz und sang, eine andere schnappte sich einen Stuhl und vermietete ihn an Passanten vorm Rathaus. Dies habe gezeigt, sagt Juliane Stiegele aus Aschau, dass oftmals nur ein ermutigender Anstoß fehlt, um kreative Kräfte frei zu setzen.
Stiegele ist freie Aktionskünstlerin mit den Schwerpunkten Intervention im öffentlichen Raum. Sie beschäftigte vor allem in ihrer 13-jährigen Gastprofessur in Taipeh auch die individuelle, gesellschaftliche und globale Frage: „Wie wollen wir in Zukunft leben?“ Und damit verbunden der Gedanke, Werkzeuge (Tools) für die Arbeit, das Wohnen, das Miteinander, die Kreativität, die Wirtschaft, den Alltag und die vielen Facetten des Lebens in der Zukunft zu entwickeln und den Menschen an die Hand zu geben.
Kunst, Wirtschaft: Das Kreative verbindet
Das Ganze fußte auf Beobachtungen, wo es in der Gesellschaft am meisten fehlt. „Mit einer Positionsbeschreibung der Gesellschaft und einer künftigen Gesellschaftsentwicklung in Zeiten der großen Änderungen.“ Priorität dabei: Kein Numerus Clausus, sondern: Alle sollen freien Zugang haben und mitwirken können.
Der rote Punkt
gegen die Isolation
Eigentlich war außer dem Buch „Utopia Toolbox 1.“, inzwischen auch in den USA und auf Chinesisch erschienen, nichts Weiteres geplant. Die umfangreiche Publikation listet Beiträge, Gespräche, Zitate sowie Do-it-yourself-Aktionen aus Wissenschaft, Kunst, Architektur, Wirtschaft, Bildung, Philosophie, Spiritualität, Praxis, Politik und Gesellschaft auf.
„Das alles Verbindende dabei ist die Kreativität“, sagt Stiegele. „Vermutlich die einzige Ressource, die uns aus den Krisen der Gegenwart heraushelfen kann.“ Das Handbuch weist zudem leere Seiten auf für eigene Ideen mit der Aufforderung, die Seiten in zehn Jahren nochmals zu öffnen. „Oft tragen die Leute jahrelang eine Idee mit sich rum und trauen sich nur nicht“, sagt Stiegele. Das zeigte auch die opendot-Aktion in Augsburg, wo Utopia Tools in der Generatorenhalle arbeitet, Veranstaltungen auf die Beine stellt sowie Treffen und Symposien. Opendot oder auch „der rote Punkt“ wurde in Briefkästen von Wohnsilos als handgroßer Klebepunkt gesteckt, auch bei Studentenwohnanlagen. Wer ihn ans Haus klebt, hat eine „offene Tür“. Eine ältere Dame erzählte, wie oft allein Studenten bei ihr anklopften, die sich trotz vieler Nachbarn in ihren Wohnanlagen einsam fühlten. Hochschulseelsorger sowie Emotionssoziologin Dr. Caroline Bohn bestätigen dies: Isolation trotz vieler Menschen im Umfeld sei ein großes gesellschaftliches Problem. Finanziert wurde die opendot-Aktion vorwiegend aus privater Tasche der Utopia Tool-Gruppe. Das Augsburger Friedensbüro steuerte 5000 Euro bei, die Stadt laut Stiegele nichts.
Ein architektonischer Notfallpatient war die neue Kinderklinik in Augsburg. Sie wurde von Utopia Tool ästhetisch mit Kinderzeichnungen in den steril-weißen Fluren und Zimmern durchgestaltet, über den üblichen und lediglich von außen sichtbaren „Kunst am Bau“ hinaus.
Das Ministerium
der Zukunft – mobil
Um Architektur und Wohnen geht es Ende September auch in Rosenheim, wo das Kunstprojekt sein „mobiles Zukunftsministerium“ (Container) auf dem Ludwigsplatz aufschlägt. Uli Schäfer (Rosenheim) und Alexander Kirnberger (München) von Utopia Tool organisieren dies als Nachfolgeprojekt von München 2017. Dort litt ein Mann, angestellt im Klinikum Großhadern, an Depressionen aufgrund der Unterbringung in einem riesigen Wohnblock. „Wie in Zellen“, erinnert Stiegele. Da die Thematik „Wohnen“ in Rosenheim in aller Munde ist, nahm Utopia Tool zu seiner ursprünglichen Fragestellung („Welche Träume haben Sie für die Gesellschaft, fürs eigene Lebenl und global?“) nun auch die Frage auf: „Welche Vorstellung haben Sie vom Wohnen?“
Die Gruppe habe sich regelrecht in das Thema reingekniet, um es neu zu denken, so Stiegele. Erster Reflex sei: „Wenn kein Platz ist, nach oben bauen.“ So gebe es etwa in Amsterdam und Berlin mobile „Aufsätze“ auf Dächer, jederzeit entfernbar. Zu dieser parasitären Wohnform gesellt sich die weiter entwickelte Idee von Tiny- (Mini-)Häusern: kleine Wohnungen auf Rädern, die dem Inhaber folgen – beispielsweise ideal für Studenten.
Parasitäres Wohnen – warum nicht?
„Die Reglementierung muss auf die Wohnungsnot reagieren. Wir müssen unkonventionelle Lösungen ausprobieren“, ist Stiegele überzeugt, wie Kreativität „herausgelassen“ werden kann. Zwei Zitate aus ihrem Werk „Utopia Toolbox.1“ passen dazu: „Zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt; die Ordnung und die Unordnung“ – sagt Paul Valéry (französischer Lyriker und Philosoph). Und Götz W. Werner (Gründer des Unternehmens dm-drogerie markt sowie der Initiative „Unternimm die Zukunft“ für ein bedingungsloses Grundeinkommen) erklärt: „Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe.“
Utopia Tool ist unabhängig und eigenfinanziert – und versteht den Begriff Kunst-(projekt) laut Stiegele auch als „Kritik an mechanistischen Denkweisen.“