Ein Jahrhundert-Leben

von Redaktion

Anna Gerold feiert ihren 100. Geburtstag und wünscht sich einen E-Roller

Rosenheim – Zwei Stunden bevor Anna Gerold ihre erste Tochter zur Welt bringt, herrscht in Rosenheim Angst und Schrecken. Es ist die Nacht des ersten Fliegerangriffs auf die Stadt. Anna Gerold war damals 25 Jahre alt. Nun feiert sie ihren 100. Geburtstag. Und nennt ihre Tochter noch heute liebevoll „Bombensplitter“.

Anna Gerold hat sich an ihrem Ehrentag ordentlich in Schale geworfen. Sie trägt eine graue Hose, eine fliederfarbene Bluse und eine dazu passende Strickjacke. Die Haare sind frisch gelockt, eine Perlenkette schmückt den Hals. Schwierig ist es gewesen, ein passendes Gwand für den 100. Geburtstag zu finden. Trotz Unterstützung ihrer drei Töchter: Angelika ist 74, die Zwillinge Michaela und Gabriele sind 71 Jahre alt.

Eine Schublade

voller Erinnerungen

Die drei kauften fünf verschiedene Blusen für die Mama. Gefallen hat ihr keine einzige. Also entschied sich die Seniorin für die Bluse, die sie schon zu ihrem 85. Geburtstag trug. Ganz nach dem Motto: Was damals gut ankam, geht auch 15 Jahre später. Sie behält recht, bekommt immer wieder Komplimente – auch von Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer, die persönlich gratuliert hat. Es gibt Blumen und Urkunden.

Gerold freut sich, sagt aber auch: „Nach all den Jahren weiß ich bald nicht mehr wohin mit all den Briefen und Urkunden.“ Sie wegzuwerfen, kommt für die alte Dame trotzdem nicht infrage, also packt sie alles in eine Schublade und holt es ab und zu wieder hervor – um sich zu erinnern.

Sie erinnert sich an viele Stationen in ihrem Leben, erzählt gerne. Eine schöne Stütze dabei ist das Fotoalbum, das ihr die Töchter zum 100. Geburtstag geschenkt haben. Darin natürlich auch das Hochzeitsfoto mit ihrem Hermann.

Ihn lernte sie damals im Sportverein kennen. Die Liebe zur Leichtathletik hat beide von Anfang an verbunden. 1941 wurde geheiratet. Das Schwarz-Weiß-Bild von der Hochzeit gehört heute zu den Lieblingsfotos der Jubilarin. Zu sehen ist das Paar, wie es das Rosenheimer Rathaus verlässt. Es winkt in die Kamera, die Gesichter strahlen.

Der erste Schicksalsschlag folgte zwei Jahre nach der Hochzeit: Anna Gerold war schwanger, die Zwillinge kamen sechs Monate zu früh auf die Welt, starben am Tag ihrer Geburt. Viel Zeit zum Trauern blieb den Eltern nicht, Hermann Gerold musste zurück nach Frankreich, arbeitet dort während des Zweiten Weltkriegs als technischer Maschinenbauingenieur der Reichsbahn.

Damit der junge Mann seine Anna während der Kriegsjahre nicht zu sehr vermisst, gibt sie ihm ein Foto mit auf den Weg. Ein Porträtbild, auf dem sie schüchtern in die Kamera blickt. Auf der Rückseite steht eine persönliche Widmung, die Schrift ist nach fast 80 Jahren leicht verblasst. Auch dieses Bild findet sich im Album, das die drei Töchter mitgebracht haben zur Geburtstagsfeier.

Die Kriegsjahre und die ersten Jahre im Leben des Ehepaars sind hart. Eine „verlorene Zeit“, wie Anna Gerold heute sagt. Verbunden mit „Angst, Einschränkungen und Entbehrungen“. Aber es hat auch Lichtblicke gegeben: Die Geburt ihrer Tochter Angelika etwa. Drei Jahre später kommen dann die Zwillinge Michaela und Gabriele dazu. Die Familie ist komplett. Wieder so ein Lichtblick in den schwierigen Jahren des Krieges. „So vergehen eben die Jahre, die guten, aber auch die schlechten“, sagt Anna Gerold.

Wiener Walzer

im Ballhaus

Die Familie, das Leben mit und für die Kinder sowie den Ehemann prägen die Jahre während des Wirtschaftswunders und danach. Und doch bleibt auch für sie selbst ein wenig Zeit, für ihre Hobbys, zu denen Tanzen, Musik und Gymnastik gehören. Eine schöne Erinnerung: der Wiener Walzer mit ihrem Mann im Rosenheimer Ballhaus.

Als Hermann Gerold vor acht Jahren starb, sei es vor allem die Familie gewesen, die ihr Trost spendete. Die Töchter, zwei Enkel und zwei Urenkel haben ihren Kummer ein gutes Stück aufgefangen. „Der Zusammenhalt der Familie und die Harmonie in meiner 70-jährigen Ehe sind für mich das schönste Geschenk des Lebens“, sagt Anna Gerold.

Das klingt wie ein Resümee, aber die 100-Jährige hat durchaus Pläne für ihr neues Lebensjahr. Noch kann sie allein in ihrem Haus in Rosenheim leben, braucht lediglich hier und da Unterstützung. Nur manchmal zwackt es in den Knochen. Selbstständig und mobil zu bleiben, das liegt Anna Gerold am Herzen. Und so steht ihr Wunsch zum 101. Geburtstag bereits fest: Sie wünscht sich einen E-Roller.

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