„Es steht einfach im Geschichtsbuch“

von Redaktion

Gymnasiallehrer Andreas Wagner über Zehntklässler und ihren Bezug zum Mauerfall

Rosenheim – Er selbst nennt sich „Kind des Kalten Krieges“, ist Jahrgang 1973, und arbeitet heute als Lehrer für Latein, Griechisch, Geschichte und Sozialkunde am Ignaz-Günther-Gymnasium: Andreas Wagner hat den Mauerfall 1989 als 16-Jähriger erlebt. Was damals geschehen ist, erklärt er heute Jugendlichen, die so alt sind wie er vor 30 Jahren. Ein Gespräch über Lehrpläne und jugendliche Lebenswelten. Und darüber, dass sich trockene Fakten gut an persönlichen Schicksalen erzählen lassen.

Herr Wagner, wie viel Raum gibt der Lehrplan dem Mauerfall und der Zeit bis zur Deutschen Einheit?

Das Thema kommt in der zehnten Klasse und ist eingebettet in das Kapitel „Blockbildung“. Für die Deutsche Einheit und die Auflösung des Ostblocks sind acht Stunden á 45 Minuten vorgesehen. Insgesamt sind das dann rund vier Wochen.

Das klingt nach straffem Programm.

Das stimmt. Aber es gibt durchaus die Möglichkeit zu einer gewissen Flexibilität. Wenn es etwa in einer Klasse Schüler gibt, deren Eltern aus der ehemaligen DDR stammen. Dann kann ich darauf eingehen, sie können erzählen. Manchmal bringen sie auch etwas mit, Erinnerungsstücke ihrer Eltern.

Sie arbeiten seit 2003 als Lehrer. Das ist in etwa das Geburtsjahr der Zehntklässler, die sie heute unterrichten. Welchen Bezug haben Ihre Schüler zu den Ereignissen rund um den Mauerfall?

Sie kennen die D-Mark oder die Wiedervereinigung nicht. Das steht für sie einfach im Geschichtsbuch. Es ist so, wie es für mich war, als ich als Schüler von der Adenauer-Ära gehört habe. Wenn zum Beispiel ein Schüler eine DDR-Münze mitbringt in den Unterricht, dann ist das für die anderen lediglich eine andere Währung, die es nicht mehr gibt. Wie eine griechische Drachme.

Wenn man es selbst nicht erlebt hat, dann fehlt vermutlich der Bezug, eine Stelle, an der man andocken kann?

Die Jugendlichen haben kaum Kontakt mit der Lebenswelt in den neuen Bundesländern. Sie nehmen sie auch nicht als solche wahr. Sie haben ganz andere Lebensrealitäten. Da geht es um Instagram und den nächsten Blog-Eintrag, der gemacht werden muss. Aber sie sind deswegen nicht unpolitisch. Viele engagieren sich zum Beispiel bei Fridays for future. Sie sind so, wie wir früher waren.

Wie reagieren die Schüler, wenn Sie Aspekte wie den Mauerbau ansprechen oder auch die politische Verfolgung. Die Flucht, die viele Menschen aus der ehemaligen DDR gewagt
haben?

Das bewegt sie tief. Wenn wir darüber sprechen, dann begreifen sie erst wirklich, dass das in Deutschland passiert ist. Persönliche Schicksale interessieren sie immer. Auch die Bilder von Menschen, die noch während des Mauerbaus fliehen, haben sie betroffen gemacht. Und nehmen Sie etwa die Aussage des damaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten: Da wird deutlich, Fake-News sind nicht neu. Das interessiert die Schüler.

Erzählen Sie, wie Sie selbst diese Zeit erlebt haben?

Wenn die Schüler fragen, ist das für mich selbstverständlich. Überhaupt ist mir der Dialog ein Anliegen. Ich muss ja klar machen, dass es um ein Politikum geht, die Zusammenhänge der einzelnen Ereignisse aufzeigen.

Können Sie sich erinnern, wie Sie den Abend des 9. November 1989 verbracht haben?

Ich habe mit meinen Eltern „Heute“ geschaut und die „Tagesschau“. Mein Vater war ein großer Gorbatschow-Fan. Er hat damals gesagt, ohne Gorbatschow wird es keine Einheit gegeben. Die war an diesem Abend ja weit weg. Mein Vater sollte Recht behalten. Mich hat das alles interessiert. Aber mir ging es wie meinen Schülern heute: Ich hatte auch andere Themen.

Sie sagen, Sie seien ein „Kind des Kalten Krieges“. Warum?

Für mich war die Welt eingeteilt in gut und böse. Die Amerikaner waren die guten. Die Russen, der gesamte Ostblock, waren die bösen. Ich habe in dieser Zeit Filme wie James Bond, Rocky oder auch Rambo angeschaut. Alles amerikanische Helden, die fürs Gute kämpfen. Das war das Weltbild damals. Das verstehe ich natürlich erst jetzt. Heute ist mir klar, dass – sagen wir mal – Propaganda ganz subtil funktionieren kann. Die DDR gehörte für mich ganz selbstverständlich zum Ostblock, das Deutsche stand für mich nicht im Vordergrund.

Wie lief das in Ihrem Geschichtsunterricht? Hat Ihr Lehrer das aktuelle Geschehen aufgegriffen?

Ja, wir hatten einen tollen Lehrer. Er hat Zeitungsausschnitte mitgebracht, er war informiert. Er war Feuer und Flamme Das war nicht so selbstverständlich wie heute. Es gab kein Internet, keine Push-Meldungen aufs Handy. Er hat uns gesagt: Kohl wird für die Deutsche Einheit sorgen, weil er die historische Chance erkennt und weil er wiedergewählt werden möchte. So ist es gekommen. Es war ihm auch etwas anderes klar: dass diese Ereignisse in 20 Jahren in den Geschichtsbüchern stehen werden.

War Ihr Lehrer Inspiration für Sie?

Ja, er war und ist mein Vorbild. Gerade auch, weil er stets versucht hat, persönliche Bezüge herzustellen und Zusammenhänge darzustellen.

Interview: Ilsabe Weinfurtner

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