Rosenheim – Während seiner politischen Karriere hat Anton Heindl nichts dem Zufall überlassen. Seine Reden hat er stets bis ins Detail vorbereitet, niemals einen Termin versäumt. Er hat ausgerechnet, dass er 10064 Tage in Rosenheim als CSU-Stadtrat und 6578 Tage als Zweiter Bürgermeister aktiv war. Am heutigen Donnerstag hört er auf zu zählen. Er zieht sich aus der Politik zurück. Mit 72 Jahren.
Anton Heindl steht ganz oben. Auf seinem Balkon, im dritten Stock des grünen Hauses am Ludwigsplatz. Er schaut über seine Stadt, lässt die vergangenen 30 Jahre Revue passieren. Auf fünf DIN-A4-Seiten hat er in langen Sätzen versucht, zusammenzufassen, was sich nicht zusammenfassen lässt. Er hält die Seiten in der linken Hand, immer wieder wirft er einen Blick darauf, während er sich zurückbesinnt.
Söder, Marx
und Steinmaier
Er erinnert sich an die Einführung von Kardinal Reinhard Marx im Februar 2008 im Münchner Liebfrauendom. An die Besuche bei Senioren im Altersheim. Er hat auf Jahreshauptversammlungen der Malteser, des Technischen Hilfswerks und des Krieger- und Soldatenvereins gesprochen. Hat Bundespräsident Walter Steinmaier bei seinem Amtsantritt vor dem Rosenheimer Kultur- und Kongresszentrum im März 2017 die Hand geschüttelt. Er hat mit Ministerpräsident Markus Söder gescherzt, als dieser Rosenheim einen Besuch abstattete. Er hat für den Marktfrauen-Brunnen am Ludwigsplatz gekämpft, hat sich für die Renovierung der St.-Nikolaus-Kirche eingesetzt. Und er saß in Hunderten Ausschuss- und Stadtratssitzungen. Bei etlichen hat er selbst die Leitung übernommen, als Vertretung von Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer.
Reden für
jeden Anlass
Eine Fülle von Ereignissen, dokumentiert in Redekonzepten, städtischen Plänen und Unterlagen. Ein unvorstellbarer Berg an Papier. Umso erleichterter ist Heindl, dass er sich vor 30 Jahren schon dagegen entschieden hat, von jedem Termin, jeder Veranstaltung, alles aufzuheben. „Ich wollte die Sache richtig und gut machen“, sagt er. Zehn Ordner habe er vor seiner ersten Stadtratssitzung angelegt, einen für jeden Ausschuss. Er nahm sich vor, alle Papiere nach jeder Sitzung abzuheften, alles ganz genau durchzunummerieren. „Das habe ich schnell sein lassen, mit den Unterlagen hätte ich ein ganzes Zimmer füllen können“, sagt er.
Mittlerweile hat er die wichtigsten Dokumente auf seinem Computer abgespeichert. Seine Reden kommen in einen extra Ordner. Fast alle hat er aufgehoben. Da sind die Reden, die er zu 95. Geburtstagen gehalten hat, andere von goldenen und diamantenen Hochzeiten. Er hat Reden von Eröffnungen und Beerdigungen gehalten. Manche sind euphorisch, andere nachdenklich und traurig. Die meisten beginnen mit einem Zitat, andere mit einer kleinen Anekdote. Fast alle sind zu lang. Anton Heindl weiß das. Geändert habe er seine Reden über die Jahre trotzdem nicht. „Was gesagt werden muss, soll auch gesagt werden.“
Über die vergangenen 30 Jahre ist so eine Dokumentation seiner Arbeit als Zweiter Bürgermeister und Stadtrat entstanden. Ein Überblick über die erreichten Ziele, die gewonnenen Diskussionen und genehmigten Anträge. Und damit auch eine Art Beleg für seine Arbeit, mit dem Heindl sich selbst beruhigen kann. Denn egal, wie hart er arbeitete, wie viele Veranstaltungen er besuchte und wie viele Hände er schüttelte, immer wieder kamen die Selbstzweifel in ihm hoch. „Ich habe Angst, dass ich meine Zeit vergeude“, sagt er. Angst davor, „zu wenig zu tun“.
In 18 Jahren nicht einmal Nein gesagt
Es ist dieses Pflichtbewusstsein, das ihn ausmacht. Die Tatsache, dass er in seinen 18 Jahren als Zweiter Bürgermeister nicht „ein einziges Mal Nein gesagt hat“. Er ist einer aus der Generation, die weiß, dass Leben auch Verpflichtung bedeuten kann. Denn eigentlich hatte Heindl ganz andere Pläne für sein Leben.
Er wollte Lehrer werden, das Leben von jungen Menschen verändern. Doch sein Vater hatte andere Ideen, wollte, dass er in die Familientradition einsteigt und das Metzgerhandwerk erlernt. Heindl beugt sich dem „Willen seines Vaters“, und arbeitete, gemeinsam mit seiner Frau Gabriele, 45 Jahre lang in der Metzgerei am Ludwigsplatz. „Geschlachtet hab‘ ich nicht gern“. Er habe die meiste Zeit hinter der Theke gestanden, die „Frauen bezirzt“. Der Kontakt mit den Menschen habe ihm schon damals am besten gefallen. Daran hat sich auch Jahre später nichts geändert. Immer wieder kommt er bei seinen Stadtspaziergängen mit Menschen ins Gespräch. Er hört zu, tauscht sich aus, gibt Ratschläge. „Das werde ich auch nach meiner Amtszeit noch machen“, sagt er. Denn auch wenn seine Zeit als Stadtrat und Zweiter Bürgermeister heute zu Ende geht, so ganz abschließen kann und will er mit der Politik nicht.
Mehr Bücher
und Konzerte
Noch einmal zur Wahl stellen lassen wollte er sich trotzdem nicht. „Es ist Zeit für einen Generationswechsel. Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, dass der mit seinen weißen Haaren immer noch da ist“, sagt er.
Trotzdem will er sich weiterhin für Rosenheim einsetzen. Nur eben in anderen Funktionen. Er bleibt der Vorsitzende des Gewerbeverbandes und Mitglied in der Kirchenverwaltung, im Förderverein der Volkshochschule sowie im Förderverein des Klinikums. „Nichts haben, geht auch nicht“, sagt er. Er will mehr Zeit mit seiner Familie verbringen. Mit seiner Frau, den drei Kindern, zwei Schwiegertöchtern und vier Enkeln. Er will mehr lesen, mehr wandern, mehr Konzerte in Rosenheim und München besuchen. Und vielleicht noch einmal auf das Erreichte zurückblicken, auf die vergangenen 30 Jahre. Heute jedenfalls wird er Abschied nehmen. Leise. Denn aufgrund der Corona-Krise wird es keine Feierlichkeiten geben. Weder für ihn, noch für Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer. Dabei hatte er die Rede schon fertig formuliert. Fünf DIN-A4-Seiten, am Computer geschrieben. Mit langen, ausführlichen Sätzen. Auch sie wird Heindl aufbewahren, wird sie in den dafür vorgesehenen Ordner schieben. Ein letztes Mal.