Rosenheim – „Nie mehr Schule, keine Schule mehr“ sang Falco 1982 – und sprach einer ganzen Generation von Schülern aus der Seele. 38 Jahre später sind viele Jugendliche tatsächlich froh, endlich wieder in die Schule gehen zu dürfen. Nach wochenlanger Corona-Zwangspause stehen sie kurz vor ihren Abschlussprüfungen und sind die ersten, die in den Unterricht zurückkehren. Rückblick auf eine Woche, die auch für Lehrer und Schulleiter sehr ungewöhnlich war.
Innere Unruhe
vor dem Neustart
Am Montagmorgen vergangener Woche stehen Gerhard Walch die Schweißperlen auf der Stirn, als er sich auf den Weg macht in Richtung Grund- und Mittelschule Rosenheim-Aising. Seit 13 Jahren ist er deren Leiter. Einen Morgen wie diesen hat er nie zuvor erlebt. Es ist der Montag, an dem, zum ersten Mal nach dem Lockdown vom 13. März, Unterricht stattfinden wird. „Ich bin mit einer inneren Unsicherheit in die Schule gekommen“, sagt er ein paar Tage später am Telefon. Da ist er längst wieder die Ruhe selbst.
Zwei neunte Klassen und eine zehnte sogenannte Vorbereitungsklasse für die mittlere Reife müssen er und sein Lehrerteam jetzt fitmachen für die Abschlussprüfungen. 73 Schüler, die über Wochen daheim waren, dort gelernt haben. Und auch deren Alltag das Coronavirus gehörig durcheinandergebracht hat. Die Verunsicherung der Jugendlichen sei gerade am Anfang zu spüren gewesen, sagt Walch. Statt einer Doppelstunde Mathe gab‘s daher für die Neunte eine Doppelstunde Reden. Über das Virus, die Situation daheim, darüber, was die Schüler nun noch erwartet im Unterricht.
„Befremdliche“
Situation
Es ist nicht nur der Lehrplan, der nun anders läuft als vor Corona geplant. Es sind auch die äußeren Umstände, an die sich die Schüler gewöhnen müssen: Der Unterricht in kleinen Gruppen, weit auseinanderstehende Tische, der Mindestabstand zu anderen. Die Hust- und Niesetikette, die es einzuhalten gilt. Die Pause, die im Klassenzimmer stattfindet. Die Desinfektionsspender, das regelmäßige Händewaschen und die neu gestalteten Ein- und Ausgänge: Die Schulen haben Vorkehrungen getroffen. Es gilt ein Maskengebot, das heißt, nur während des Unterrichts dürfen die Schüler die Masken abnehmen. Man hält sich an die Vorgaben aus dem Kultusministerium und verzichtet damit auf eine Maskenpflicht, wie sie der Pruttinger Verein „Engagierte Schüler-Eltern-Bürger“ in einem Brief an Kultusminister Michael Piazolo (FW) und Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fordert (wir berichteten).
Sechs Seiten mit Erklärungen hat Brigitte Würth, Leiterin des Sebastian-Finsterwalder-Gymnasiums, im Vorfeld aufgeschrieben, und an die Eltern verschickt. Dazu ein Merkblatt für die Schüler, ausgearbeitet mit allen Regeln, die sie zum Neustart wissen müssen. Tagelang hat sie an den Vorbereitungen gearbeitet, unter anderem einen Briefkasten im Haus aufstellen lassen. In ihn können die Schüler ihre schriftlich formulierten Anliegen werfen – und auf diese Weise den Besuch im Sekretariat vermeiden.
„Kein wirklicher Alltag“
Als „befremdlich“ beschreibt Leo Reichel die Situation in der Schule. Der 18-Jährige besucht das Sebastian-Finsterwalder-Gymnasium und ist einer von 80 Schülern, die jetzt wieder in der Schule lernen. Nach Jahren gewohnter Wege sei das nun geltende Einbahnstraßensystem auf den Gängen sehr ungewohnt. Ebenso das stundenlange Sitzen in einem Raum, die fehlende Möglichkeit, sich mit seinem Banknachbarn direkt zu unterhalten. „Insgesamt“, sagt Leo Reichel, „ist es kein wirklicher Alltag.“
Trotzdem ist er froh, wieder in der Schule zu sein. Denn das Lernen daheim sei gerade in der ersten Woche „ganz schwierig“ gewesen. Einerseits, weil nicht alle Lehrer technikaffin genug seien, um alternative Unterrichtsmethoden anzubieten. Andererseits aber auch, weil ihm der persönliche Kontakt zum Lehrer gefehlt hat. „Den Rechnungsweg per Mail zu schicken, ist irgendwie unpersönlich“.
Leo Reichel hat zu Hause ein eigenes Zimmer, ebenso wie seine Schwester, die in die achte Klasse geht. Auch sein Bruder, der Student ist, verbringt in diesen Corona-Wochen viel Zeit daheim. „Das ist schon anders“, sagt Leo. „Man streitet sich manchmal.“
Wie unterschiedlich die Voraussetzungen für das Lernen zu Hause sind, darüber ist viel diskutiert worden. Gerhard Walch von der Grund- und Mittelschule schätzt, dass im Schnitt zwei von 20 Schülern betroffen waren, mit denen es schwierig gewesen sei, Kontakt zu halten, obwohl das digitale Angebot der Schule gut ist. „Wenn Sie eine Familie mit drei Kindern haben, die alle unterschiedliche Schultypen besuchen, und es gibt daheim keinen PC, dann wird es schwierig“, sagt Walch.
Es bleibt mehr Zeit
zur Vorbereitung
Wie verschieden die technische Ausrüstung in den Familien ist, das weiß auch Magdalena Ramm. Sie leitet die Mädchenrealschule und kennt Elternhäuser, in denen es lediglich einen Rechner gibt. Wenn der Vater, die Mutter oder gar beide Elternteile wegen Corona im Homeoffice arbeiten müssen, bleibt für die Kinder kein Platz fürs Lernen. „Das sind ganz schwierige Bedingungen“, sagt sie. In der Folge sind viele ihrer 109 Abschlussschülerinnen froh, wieder den Unterricht besuchen zu können. Er bietet ihnen einen festen Rahmen, verbindliche Ansagen. Auch das sind wichtige Faktoren, denn nicht jedes Kind ist in der Lage, sich zu organisieren und eigenständig zu arbeiten. „Manche haben keine Struktur, die versandeln dann“, sagt Magdalena Ramm. In Summe aber sei der Wissensstand in Ordnung, arbeiteten die Kinder „gut und willig“.
Magdalena Ramm kann der neuen Situation auch durchaus etwas Positives abgewinnen: Weil die Prüfungen verschoben sind, bleibt mehr Zeit zum Lernen. Außerdem ist der Unterricht in kleinen Klassen von Vorteil. „Sie sind jetzt deutlich besser vorbereitet als in den vergangenen Jahren“, sagt die Schulleiterin.
Für Anne Eifert, die wie Leo Reichel Abitur am Sebastian-Finsterwalder-Gymnasium macht, ist der Unterricht auch nach einigen Tagen ungewohnt. „Es ist komisch und voll anders“, sagt die 18-Jährige. Aber auch sie spürt, dass das Lernen gut klappt, dass sie und ihre Mitschüler „effizienter“ arbeiten. Nicht zuletzt, weil das Schwätzen während des Unterrichts nicht mehr möglich ist. Sehr zur Freude der Lehrer offensichtlich: „Die Lehrer lachen schon, weil es so still ist“, sagt Anne Eifert.
Was für Schüler und Lehrer gleichermaßen anstrengend ist, sind die vielen Doppelstunden, die nun anfallen, weil die Klassen in Schicht unterrichtet werden. Carolin Holzmeier, Lehrerin am Sebastian-Finsterwalder-Gymnasium, unterrichtet unter anderem Deutsch und führt zwei Abschlussklassen zum Abitur. Die 19 Schüler lernen in zwei Gruppen, einmal acht, einmal elf Schüler. Aus einer Doppelstunde werden auf diese Weise zwei. Ein Problem, das alle Schulen betrifft – und das bisher personell und räumlich noch zu lösen ist. Sollten aber demnächst weitere Schüler zum Unterricht zurückkehren können, dann wird es knifflig. Zumal ja auch die Prüfungen in kleinen Gruppen stattfinden müssen, also auch dann mehr Personal gebraucht wird.
Alle Feierlichkeiten
sind abgesagt
Erschwerend kommt hinzu, dass vieles vage bleibt in diesen Corona-Tagen. Die Schulen fahren auf Sicht, warten auf Informationen aus der Politik. Fix sind derzeit die Prüfungstermine: Das Abitur beginnt am 20. Mai, die Prüfungen an der Mittelschule am 6. Juni und an den Realschulen am 30. Juni. Unklar ist, ob es dabei bleibt, dass am 11. Mai auch alle anderen Schüler den Unterricht wieder aufnehmen können. Für die Schulfamilien schmerzlich ist, dass die Abschiedsfeiern ausfallen. Gerade jetzt, da die Schüler in einer „besonderen Situation“ steckten, ihr Leben ins Leere gelaufen sei, weil sie nicht wussten, wann die Schule wieder startet, sei das traurig, sagt Direktorin Brigitte Würth. Abiball und Abifahrt fallen flach. Die Abschlussfeier im Kuko ist abgesagt. Aber ihre Abiturienten ohne Abschiedsgruß ins Leben schicken, das will Brigitte Würth auf keinen Fall. „Irgendeine feierliche Stunde wird es geben.“