Rosenheim – Obwohl bereits drei Jahre lang Bomber deutsche Städte in Schutt und Asche legten, traf es uns wegen der beschränkten Reichweite der Begleitjäger für die in England startenden Bomber zunächst nicht.
Als sich jedoch die Amerikaner und die Briten nach ihrer Landung in Sizilien ab Juli 1943 in Italien immer weiter Richtung Norden vorwärtskämpften, gerieten auch wir ab Oktober 1944 in die Reichweite der Bomber.
Bis zum Kriegsende trafen 14 verheerende Bombenangriffe den Rosenheimer Bahnhof als Eisenbahnknotenpunkt sowie die Klepperwerke als Rüstungsbetrieb. Das gesamte Rosenheimer Bahnhofsgelände war bald kraterübersät wie eine Mondlandschaft, Gleise stachen bizarr in die Luft und zerstörte Loks und Waggons lagen kreuz und quer herum. Ein Volltreffer traf einen der beiden Bunker vor dem Bahnhof. 53 Menschen starben bei dieser größten Einzelkatastrophe während des Krieges in Rosenheim.
Noch heute sieht
man Bombentrichter
Die Treffsicherheit der Bombenschützen war groß, und nur wenige Bomben fielen daneben. Eine Ausnahme bildeten sogenannte Notabwürfe beim Abdrehen nach Süden, weil ein vielleicht durch einen Flaktreffer beschädigtes Triebwerk oder das grundsätzliche Risiko einer Landung mit Bomben an Bord es geboten, die tödliche Fracht loszuwerden. Im Wald an der Mangfall zur Aisingerwies hin sind heute noch zehn Bombentrichter mit manchem idyllischem Tümpel Zeugen solcher Notabwürfe. Für mich, als bei Kriegsende sechsjährigen Buben war die Reaktion auf die Bombenangriffe bald Routine. Begleitet vom schrecklichen Ton der Sirenen ging ich an der Hand meiner Mutter zum Bombenkeller unter dem Kunstmühlsilo, genau dort, wo sich jahrelang im Erdgeschoss das Restaurant Dinzler befand.
„Christbäume“ weisen
Bombern den Weg
Wenn wir zum Bombenkeller in der Nacht gehen mussten, konnten wir am Nordwesthimmel deutlich die von der Vorhut der Bomberschwärme über München abgeworfenen „Christbäume“ sehen. Das waren langsam herabschwebende Leuchtkörper, die für die nachfolgenden Bomber die Ziele effektiv beleuchteten.
Die schaurige Geräuschkulisse im Bombenkeller werde ich nie vergessen. Erst leise, dann immer lauter anschwellend das Dröhnen der über hunderttausend PS am Himmel, dann plötzlich übertönt von einem ebenfalls immer lauter werdenden Pfeifen – dem Geräusch fallender Bomben. Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, wenn dieses Pfeifen abrupt endete, bis nach der Wirkung des Zünders die Detonation einer Bombe in den Keller dröhnte, begleitet vom Wogen des Kellerbodens unter unseren Füßen und gefolgt vom ebenfalls deutlich hörbaren Niederprasseln der Trümmer eines getroffenen Gebäudes.
Wenn eine Sirene zur Entwarnung erklang, kehrten die Menschen aus dem Keller zurück nach oben und ich, unter dem Schutzmantel des fehlenden Gefahrenbewusstseins eines Kindes konnte wohl nicht empfinden, was meine Mutter bewegte, wenn sie nach unserem Haus, der Villa Rosa blickte, die – Gott sein Dank – immer wieder heil geblieben war. An diesem 25. April war alles ein bisschen anders. Unser Haus hatte keine Fenster mehr, der Luftdruck hatte alle Scheiben eingedrückt. Glück im Unglück, dass es wenigstens nicht mehr Winter war! Trotzdem war das Gras im Garten weiß, als ob Schnee läge. Der Luftdruck hatte alle Blütenblätter von 40 Obstbäumen zu Boden geblasen. Und dann kamen Leute auf uns zu, die uns verboten in unser Haus zu gehen.
Ein Blindgänger lag unmittelbar außerhalb des östlichen Gartenzauns zum Klepper hin. Durch den Zaun konnte ich sie sehen: Friedlich und harmlos, als ob sie keinen Schaden anrichten könnte, lag dort eine, aus meiner heutigen Sicht, eineinhalb Meter lange Bombe. Nicht einmal einen nennenswerten Krater hatte sie gerissen! Wie eine etwas groß geratene weggeworfene Bierflasche!
Wir wurden „ausquartiert“, wie der allgemein bekannte, gefürchtete Begriff lautete. Im Haus einer Frau im Ortsteil Am Gries sollten wir den Abend und die Nacht verbringen, bis die Bombe am nächsten Tag entschärft wäre. Die Frau hatte ebenfalls einen Buben in meinem Alter und so ließ mich ein neu gefundener Spielkamerad bald wieder nur das harmlose Glück eines spielenden Kindes empfinden.
Der Krieg war einfach wieder ganz weit weg! Ich begegne auch heute noch hin und wieder meinem damaligen Spielkameraden irgendwo in Rosenheim. Er war jahrelang Stadtrat und jedes Mal, wenn sich unsere Blicke treffen, denke ich an den letzten Bombenangriff auf Rosenheim, genau eine Woche, bevor der Einmarsch der Amerikaner auch bei uns endlich den Krieg beendete.
Dann bin ich dankbar, dass alles so gut an uns vorübergegangen ist. Ich hätte ihn eigentlich schon längst einmal fragen sollen, meinen Spielkameraden an einem Kriegsabend, ob er das Gleiche denkt. Also, bei der nächsten Begegnung werde ich es aber dann endlich doch tun!
Ein Wunder
im Frieden
Mein Erleben des Kriegsendes war geprägt von der Sorglosigkeit einer Kinderseele und dem erwachenden Verstand eines baldigen Schulanfängers. Für uns waren die Ruinen und die Bombentrichter der tollste Abenteuerspielplatz, und wir liebten die US-Soldaten auf ihren Jeeps, vor allem die schwarzen, die uns immer wieder Schokolade, Kaugummi und Orangen zuwarfen; dergleichen hatten wir vorher weder gesehen noch genossen.
Der absolute Höhepunkt für mich war das Wunder der Heimkehr meines Vaters von der Ostfront knapp vor Stalingrad bereits am 10. Mai!