Rosenheim – Wenn ein Nachbar klingelt und verzweifelt um Hilfe bittet, würden wohl nur wenige diese verweigern. Vor allem, wenn es sich dabei um einen 93-jährigen Senior handelt, der laut seiner Nachbarn immer seriös aufgetreten ist und den Eindruck erweckt, unverschuldet in eine missliche Lage gekommen zu sein. Genau das ist mehreren Anwohnern in der Reifenstuelstraße in Rosenheim passiert. Doch bekamen sie ihr Geld nicht wieder. Nach mehreren Versuchen, die Schulden wieder einzutreiben, stellten fünf Nachbarn Strafanzeige bei der Polizei. Mittlerweile liegt der Fall bei der Staatsanwaltschaft Traunstein. Doch das hält den 93-jährigen Rosenheimer nicht davon ab, weiterhin Klinken zu putzen – und nach mehr Geld zu fragen.
750 Euro wegen einer
Bürgschaft des Sohnes
„Verlegen klingelte unser Nachbar am 5. Oktober vergangenen Jahres an unserer Tür. Er beteuerte eine Bürgschaft für seinen Sohn, der in Trier lebt, übernommen zu haben“, sagt eine Nachbarin. Er sagte, dass er bis zum Abend dringend 750 Euro in bar aufbringen müsse. Die 73-Jährige hatte sich an die OVB-Heimatzeitungen gewandt, weil der Senior trotz mehrerer Anzeigen bei der Polizei weiterhin durch die Nachbarschaft zieht und immer wieder die gleiche rührselige Geschichte erzählt.
Weil sie den Nachbarn seit mehreren Jahren kennt und er ihr immer „sehr seriös“ vorkam, ging sie auf seine Bitte ein und legte ihm 800 Euro aus. „Er brauchte 750 Euro, die er wegen einer Bürgschaft für seinen Sohn zahlen müsste“, sagt sie. Aus Mitleid über den „missratenen Nachwuchs“ hob sie den Geldbetrag bei der Bank ab und legte noch 50 Euro oben drauf, „damit seine Frau und er sorgenfrei übers Wochenende kommen.“
Der 93-Jährige hatte ihr versichert, das Geld am darauffolgenden Montag (7. Oktober 2019) zurückzugeben. „Ich vertraute ihm und war so erschüttert, dass die eigenen Kinder Ältere in eine solch peinliche Lage bringen“, sagt die 73-Jährige.
Dann passierte erst einmal nichts. Der Schuldner meldete sich bis Ende des Monats nicht. Mehrere Versuche, das Ehepaar zu kontaktieren, scheiterten. Die Geldgeberin wurde immer wieder mit Ausreden über die Gegensprechanlage des Mehrfamilienhauses vertröstet. ,Soll ich vor Ihnen auf die Knie gehen‘, hat er immer wieder gesagt“, sagt die Nachbarin. Nach mehreren Telefonaten und weiteren Versuchen, das Geld zurückzubekommen, meldete sich der 93-Jährige Anfang Dezember und zahlte der 73-Jährigen 100 Euro zurück. „Er versprach, die restlichen 700 Euro in monatlichen Raten von 100 Euro zurückzuzahlen“, sagt sie. Doch daran hielt er sich wieder nicht. Es folgten weitere Ausreden. Die geschädigte Nachbarin schrieb die ersten Mahnbriefe. Ohne Erfolg.
„In der Zwischenzeit kam ich mit anderen Nachbarn ins Gespräch“, sagt sie. Dabei stellte sich heraus, dass sich der 93-Jährige zwischen Januar und März auch bei ihnen Geld geliehen hatte. Bei mehreren Parteien der umliegenden zehn Hausnummern hatte der Senior Schuldscheine unterschrieben. „Im Januar und Februar waren es bei mir vier Schuldscheine, die allesamt noch offen sind. Insgesamt habe ich ihm 1200 Euro ausgelegt“, sagt eine 77-jährige Nachbarin. Bei einem 49-Jährigen hatte er sich im März circa 250 Euro ausgeliehen. „Er hat mir die gleiche Story erzählt. Allerdings war es nicht der Sohn, sondern ein Freund, für den er gebürgt hatte“, sagt er. Auch sie werden seit Wochen von dem 93-Jährigen hingehalten.
Noch viele weitere Nachbarn seien betroffen, die sich jedoch nicht gegenüber den OVB-Heimatzeitungen äußern wollten. „Wir wissen von einer Schadenssumme von rund 3000 Euro. Die tatsächliche Summe könnte noch höher sein“, sagt die 73-Jährige, die seit Oktober auf ihr Geld wartet. Nachdem sie Ende April Anzeige bei der Polizeiinspektion Rosenheim erstattet hatte, schlossen sich einige der anderen Nachbarn an.
Laut einem Schreiben der Polizeiinspektion sei der 93-Jährige persönlich vorstellig geworden und versprach, das Geld bis zum 15. Mai an alle Gläubiger zurückzuzahlen. Fehlanzeige. Der 93-Jährige stand für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung. Trotz mehrmaligen Klingelns öffnete niemand die Tür.
Inzwischen liegt der Fall bei der Staatsanwaltschaft Traunstein. Der Tatvorwurf lautet auf Betrug, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Neben der 73-Jährigen seien vier weitere mögliche Geschädigte erfasst. Derzeit liege die Akte wieder bei der Polizeiinspektion in Rosenheim, da die Staatsanwaltschaft weitere Ermittlungen in Auftrag gegeben hat.
Staatsanwaltschaft
und Polizei ermitteln
Ob sich der Tatvorwurf bestätigt und wie das Verfahren ausgehen wird, lasse sich laut Staatsanwaltschaft Traunstein noch nicht beurteilen, da die Ermittlungen noch laufen. „Wir werden das Geld wohl nie wieder sehen“, sagt die 73-jährige Nachbarin. Trotzdem will sie auf ihre Situation aufmerksam machen: Von anderen Nachbarn habe sie gehört, dass der 93-Jährige weiter von Tür zu Tür zieht und nach Geld fragt. „Wir wollen verhindern, dass noch mehr Leuten das Gleiche passiert wie uns.“