„Ich habe mich wahnsinnig geschämt“

von Redaktion

Angehörige von Alkoholabhängigen erzählen, wie die Selbsthilfegruppe Al-Anon hilft

Rosenheim – Unter einer Alkoholabhängigkeit leiden nicht nur die Trinker. Auch Partner, Angehörige und Freunde müssen über die Jahre viel durchmachen. Hilfe und Trost finden sie in der Al-Anon-Gruppe in Rosenheim. Zwei Teilnehmer berichten.

Anonymität steht
an oberster Stelle

Es gab eine Zeit, da dachte Ruth G., der Tod wäre einfacher, als das Leben. „Ich habe ein paar Mal mit der Idee gespielt, einfach gegen einen Baum zu fahren“, sagt die Rosenheimerin, die eigentlich anders heißt. Aber Anonymität ist ihr wichtig. Sie will nicht, dass Menschen sie für ihre Vergangenheit verurteilen, für das, was sie durchgemacht hat. An der Seite eines alkoholabhängigen Mannes.

Ruth G. sitzt im Gemeindezentrum der Evangelischen Apostelkirche in der Lessingstraße, vor ihr liegt ein Stapel mit Unterlagen. Auf die erste Seite hat sie einige Stichpunkte geschrieben, so als ob sie sichergehen will, dass sie nichts vergisst. Langsam beginnt sie über den Teil ihres Lebens zu sprechen, den sie jahrelang versucht hat geheim zu halten. Vor Freunden, Bekannten, aber auch der eigenen Familie. Und das, obwohl sie schon kurz nach ihrer Hochzeit wusste, dass etwas nicht stimmt. Nur was, das wusste sie eben nicht. Oder wollte es nicht wissen. So genau weiß sie das heute nicht mehr.

Also besucht sie gemeinsam mit ihrem Mann einen Ehetherapeuten. Sie reden, versuchen herauszufinden, was falsch laufen könnte. „Es ist schwer, eine Lösung zu finden, wenn das Hauptproblem nicht mit einem Wort erwähnt wird“, sagt Ruth G. rückblickend. Über die Jahre sei die Situation zu Hause immer schlimmer geworden. Immer öfter kommt ihr Mann betrunken nach Hause. Er bekommt Schwierigkeiten mit der Polizei, baut Unfälle. Als er schließlich seinen Führerschein verliert, lügt Ruth G. für ihn und denkt sich Ausreden für Chef, Freunde und Familie aus. „Ich habe viel vertuscht“, sagt sie. „Ich habe mich einfach wahnsinnig geschämt.“ Heute weiß sie, dass es der falsche Weg war, dass sie ihren Mann teilweise sogar zum Trinken animiert hat. Aber sie wusste es nicht besser, sehnte sich nach einem normalen Leben. Einem Leben ohne Alkohol.

Um sich nicht mit ihrem Mann und seinen Problemen auseinandersetzen zu müssen, arbeitet sie mehr. „Das war für mich wie eine Therapie. Ich konnte meine ganze häusliche Not ablegen“, sagt sie. Doch irgendwann endet jeder Arbeitstag und sie musste „zurück zu meiner Misere“. Schließlich beschließt sie, dass es so nicht weitergehen kann.

Sie gesteht sich ein, dass sie Hilfe braucht. Und findet diese in der Selbsthilfegruppe „Al-Anon“. Hier treffen sich jede Woche Männer, Frauen, Väter, Mütter, Freunde und Verwandte von alkoholabhängigen Angehörigen, die alle ein Ziel haben: Trotz der Suchtproblematik des Angehörigen ein lebenswertes Leben führen.

„Man hat mir gleich gesagt, dass ich in der Gruppe keine Lösung für das Alkoholproblem meines Mannes finden werde“ erinnert sich Ruth G. Wobei man ihr allerdings helfen könne, sei eine Lösung zu finden, wie sie selbst mit dem Suchtproblem ihres Partners umgehen kann. Zum ersten Mal seit Jahren spricht sie über ihre Probleme, über die Dinge, die sie belasten und erfährt, dass sie nicht schuld ist an der Alkoholsucht ihres Mannes.

Die Tatsache, dass sie nicht alleine ist, hilft ihr durch die schweren Momente hindurch. Gleich bei einem der ersten Treffen lernt sie Egon M. kennen. Auch er heißt eigentlich anders. Die beiden verstehen sich, die gemeinsamen Erfahrungen verbinden sie. Denn Egon M. weiß ebenfalls wie es ist, mit einem alkoholabhängigen Menschen zusammenzuleben.

Partner sind mittlerweile trocken

Er erzählt von seinem Umzug nach Rosenheim, davon, wie seine Frau mit der neuen Umgebung so gar nicht klar kam. Statt nach einem Job und Freunden zu suchen, zog sie sich immer mehr zurück, ertränkte ihren Frust in Alkohol. „Ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll“, sagt Egon M. Nur eins wusste er: Seine Nachbarn und Arbeitskollegen sollten auf keinen Fall etwas davon mitbekommen, was vor sich geht. „Ich dachte wirklich, dass niemand etwas gemerkt hat. Aber alle wussten Bescheid.“

Er erinnert sich an den Tag, als er seine Frau zum wiederholten Mal betrunken auf dem Sofa gefunden hat. Noch heute kann er den Geruch von Alkohol gemischt mit dem Küchendunst ganz genau beschreiben. Es war der Moment, als er entschied, etwas für sich zu tun und die Selbsthilfegruppe zu besuchen. Es ist eine Entscheidung, die fast 30 Jahre zurückliegt.

Seine Frau hat es mittlerweile nach mehreren gescheiterten Versuchen geschafft, mit dem Trinken aufzuhören. Und auch Ruth G‘s Mann, der nicht mehr ihr Mann ist, ist seit einigen Jahren trocken. Doch das Leben ist ein anderes. Für alle. Und doch weiß Ruth G. eines ganz sicher: Sie ist froh, dass sie sich damals für ihr Leben entschieden hat.

Mehr Informationen zur Rosenheimer Selbsthilfegruppe

Es gibt rund 600 Al-Anon-Selbsthilfegruppen in Deutschland. Die Gemeinschaft Al-Anon (Alcoholics Anonymous Family Groups) entstand ebenso wie die Anonymen Alkoholiker-Gruppen in den USA. Vor 50 Jahren wurde Al-Anon in Deutschland gegründet, in Rosenheim vor circa 40 Jahren. Die Treffen finden jeweils am Donnerstag von 19 bis 20.30 Uhr im Gemeindezentrum der Evangelischen Apostelkirche in der Lessingstraße 26 in Rosenheim statt. Auch während der Corona-Krise. Zeitgleich treffen sich dort auch die Mitglieder der Anonymen Alkoholiker. Weitere Informationen gibt es unter www.al-anon.de, unter Telefon 0201/773007 oder per E-Mail an

alanon.ro@t-online.de.

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