Rosi Schnitzenbaumer
Rosenheim – Liebe wird es richten. So dachte Carola M. aus Rosenheim, als sie im Juli vergangenen Jahres ihre an Demenz erkranke Mutter aus dem Seniorenheim holte. Für ein paar Monate nur, so glaubte sie damals, bis man die Corona-Pandemie soweit im Griff hätte, dass sie ihre Mutter nicht nur für 20 Minuten am Tag besuchen könnte. Mittlerweile weiß sie: Auch Liebe braucht immer wieder Abstand, um sich aufladen zu können. Wenn sie Tag für Tag 24 Stunden gefordert ist, fängt sie an, langsam, aber sicher auszutrocknen.
Plötzlich eine
Mitbewohnerin
Carola M. hatte alleine gelebt, sich in dieser Unabhängigkeit gut eingerichtet – nun muss sie ihre Drei-Zimmer-Wohnung mit einem anderen Menschen teilen. Einem Menschen, mit dem man wegen seiner Erkrankung nur ganz beschränkt Spielregeln für das Zusammenleben aufstellen kann. Stattdessen tauchen immer wieder ganz alte Umgangsmuster auf: „Dann merkt man deutlich, dass ich für meine Mutter wieder das kleine Mädchen bin, auf dessen Wohlergehen sie achten muss“, sagt die Rosenheimerin.
Worüber man bei einem normalen Kontakt sicher mit Humor hinweggehen könnte, nervt bei so engem Zusammenleben schrecklich. Dass man da auf Dauer ab und zu aus der Haut fahren möchte, ist verständlich, doch für Carola M. bringt das keine Erleichterung: „Ich habe bei jedem unwirschen Wort sofort Gewissensbisse, weil ich merke, meine Mutter versteht nicht, warum ich gereizt bin, sie kann Ursache und Wirkung oft nicht mehr verbinden, fühlt sich dann meinen Emotionen hilflos ausgeliefert“.
Unsicher ist sie aber auch selbst: „Man weiß bei einem an Demenz erkranktem Gegenüber nie“, so sagt sie, „in welcher Rolle, als welche Person man gerade wahrgenommen wird. Manchmal bin ich für meine Mutter eine der Pflegerinnen, die sie aus dem Seniorenheim gewohnt war, manchmal ihre erwachsene Tochter, manchmal das kleine Kind und manchmal völlig fremd.“
Auch dadurch wird der ganze Alltag so belastend, dass Carola M. sagt: „Zwar habe ich mit meiner häuslichen Pflege für meine Mutter das erreicht, was ich wollte, sie ist seit Juli aufgeblüht, steht mit ihren 92 Jahren körperlich bestens da. Auch ihre Demenz-Erkrankung hat sich, soweit man das beurteilen kann, verlangsamt. Ich selber aber gehe am Zahnfleisch daher, mein ganzes Denken ist auf meine Mutter ausgerichtet. Wenn ich mich mit ihr zum Spazierengehen fertigmache und wir auf der Straße stehen, dann merke ich, dass ich an ihre Handschuhe gedacht habe, meine aber vergessen und noch nicht mal Straßenschuhe anhabe.“
Am meisten frustriert ist sie jedoch darüber, dass es ihr durch die Überbelastung immer schwerer fällt, die schönen Momente bewusst wahrzunehmen, von denen es eigentlich auch sehr viele gäbe. „Meine Mutter ist vom Naturell her eigentlich ein Sonnenschein“, erzählt sie, „und hat sich das glücklicherweise auch bewahrt. Ich habe mir am Anfang gedacht, dass wir bei allem Schwierigen auch viel Spaß miteinander haben werden und ich ihr den Rest ihrer Lebenszeit so angenehm wie möglich gestalten kann. Das ist wohl auch so, aber ich kann es immer seltener wirklich bewusst empfinden“.
Dabei wäre die Rosenheimerin in der Theorie so schlecht nicht aufgestellt: Zweimal in der Woche kann sie ihre Mutter in Tagespflegeinrichtungen bringen, schafft sich so die Zeit, um ihren Beruf als Sachbearbeiterin wenigstens auf Sparflamme ausüben zu können: „Wenigstens soweit, dass die Stelle nicht weg ist und auch meine eigene zukünftige Rente nicht völlig einbricht. Ich habe da viel Glück gehabt mit einem sehr verständnisvollen Chef.“
Zwei weitere Male pro Woche wäre ihre Mutter bei Betreuungsgruppen der Caritas angemeldet, einmal zu einem nachmittäglichen Kaffeeplausch, einmal zu einem Frühstück. Doch diese beiden Gruppen finden zurzeit wegen der Corona-Lage nicht statt.
„Ich kam mir
vor wie befreit“
„Mein größter Wunsch wäre deshalb, dass sie wieder öffnen können“, sagt Carola M. „Ich weiß noch, als im Januar vorübergehend ein Besuch wieder möglich war und ich deshalb wieder einmal alleine, ohne meine Mutter, in den Supermarkt gehen konnte: Ich kam mir vor wie befreit! Nicht ständig aufpassen zu müssen, wo sie im Geschäft gerade ist und was sie dort macht, sondern einfach nur einkaufen.“ Es würde ihr auch schon helfen, wenn sie jemand zuhause für ein, zwei Stunden ablösen könnte – auch solche Besuchsdienste gibt es, doch auch sie können wegen der Corona-Lage nur sehr eingeschränkt stattfinden.
Dankbar wäre die Rosenheimerin nicht zuletzt, wenn die Treffen für pflegende Angehörige, die es bei der Caritas ebenfalls gibt, wieder abgehalten werden könnten. „Einmal mit jemand anderem reden zu können, der einen versteht, weil er selber in einer ähnlichen Lage ist, das wäre so wichtig“, sagt sie. „Man trifft ja kaum noch andere Menschen und wenn, dann kann und will man die mit den eigenen Problemen ja nicht zumüllen. Dabei würde es so sehr helfen, das, was man Tag für Tag aufhäuft, weil man es nur mit sich selber ausmachen kann, einmal auch aussprechen zu können.“