Rosenheim – Zum Startpunkt des Trainings, der Rossmüller-Filiale am Roßacker, gehe ich zu Fuß. Was ich dabei noch völlig außer Acht lasse, sind die unzähligen Hindernisse für Rollstuhlfahrer: zu hohe Bordsteine, leichte Anstiege und noch viele andere, die sich mir erst im Laufe des Trainings aufzeigen. Genau das ist es aber, wofür das Training angedacht ist: In diesem Fall sollen damit angehende Erzieher ein besseres Gefühl für den Umgang mit Rollstuhlfahrern erhalten. Dafür geht nichts über die Erfahrung am eigenen Leib.
Unterricht vertiefen
und erlebbar machen
„Im Rahmen einer jeden Erzieherausbildung können alle Studierenden mit praxisnahen Übungen, Themenbereiche aus dem Unterricht noch einmal vertiefen und erlebbarer machen“, erklärt mir Diplom-Sozialpädagogin Sabine Herrmann. So auch ihre Schützlinge vom GGSD Bildungszentrum Rosenheim, die sich in Kleingruppen – jede mit einem Rollstuhl ausgerüstet – auf den Weg in die Rosenheimer Innenstadt machen. Dabei darf ich eine Gruppe von Studierenden begleiten und auch selbst auf dem Rollstuhl Platz nehmen.
Bevor es aber richtig losgeht, wird uns die Bedienung eines Rollstuhls erklärt: Wie funktionieren die Bremsen? Was muss ich als Schiebender beachten? Wie kann ich lenken? Wir werden regelrecht mit Informationen zugeschüttet und anschließend sofort von der Leine gelassen. Aus meiner Gruppe nimmt Luisa Pawlack als Erste im Rollstuhl Platz und bemerkt nach den ersten Metern: „Es fühlt sich irgendwie seltsam an. Man muss dem Schiebenden ganz schön viel Vertrauen entgegenbringen.“
Dasselbe Gefühl macht sich auch bei mir breit, als ich mich einige Zeit später selbst auf den Rollstuhl setze. Nachdem wir uns in den Rollen abwechseln, übernimmt bei mir Anna Whitehead das Schieben. Ich kann nun lediglich noch die Bremse ziehen, muss also voll und ganz auf die Führung von Anna vertrauen. Es dauert, bis ich mich daran gewöhne, schließlich kann ich sie nicht mal sehen. Es fühlt sich an, als fahre der Rollstuhl ganz von alleine.
Aus meiner nun tiefergelegten Perspektive nehme ich auch mein Umfeld, und mein Umfeld mich, ganz anders war. Viele Passanten blicken nun mit einem gewissen Mitgefühl auf mich hinab. Einerseits freut es mich, dass mir von so vielen Mitmenschen eine gewisse Unterstützung entgegengebracht wird.
Andererseits komme ich mir vor, als werde ich wie ein unreifes Kind behandelt, das noch nicht für sich sorgen kann. Dabei wird man durch einen Rollstuhl nicht weniger Mensch: Wie ich selbst erlebt habe, ist trotz einiger Einschränkungen immer noch so etwas wie Alltag möglich.
Um auch die Perspektive eines Rollstuhlfahrers ohne Begleitung einzunehmen, wechseln wir uns auch hier mit den Solofahrten ab. Dabei stoßen wir auf einige Hindernisse, die wir alleine nicht meistern könnten. Marie Jäger ist dabei die Erste und muss sich auch prompt den schweren Glastüren am Karstadt-Eingang geschlagen geben. Nur dank eines hilfsbereiten Passanten kann sie auch das Innere des Geschäfts sehen. Als ich an der Reihe bin, komme ich sogar ins Schwitzen: Wir befinden uns auf dem Rückweg zu Rossmüller, müssen deshalb also wieder den Hügel zum Roßacker hinauf. Wie anstrengend kann das schon sein? Wie sich herausstellt, sehr. Ich komme nur langsam voran, und bereits nach einigen Metern melden sich meine Arme unter der hohen Anstrengung. Es braucht also neben netten Mitmenschen auch eine gute Kondition in den Oberarmen.
Neue Perspektive
gewonnen
Nachdem wir uns wieder am Ausgangsort eingefunden haben, ist sich meine Gruppe einig: Der Ausflug hat uns allen eine völlig neue Perspektive aufgetan. Auch wenn wir mit nur knapp anderthalb Stunden in keiner Weise beurteilen können, was es bedeutet, für einen längeren Zeitraum im Rollstuhl zu sitzen. Trotzdem nehme ich vieles aus dem Training mit und werde Rollstuhlfahrern in Zukunft mit einer anderen Grundhaltung begegnen.