Rosenheim – Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland etwa 10000 Menschen das Leben. Unterstützung für Angehörige, Bekannte und Freunde bietet die Rosenheimer Selbsthilfegruppe „Trauer nach Suizid“. Eine Geschichte über Schuldgefühle, Einsamkeit und den Kampf zurück ins Leben.
Manchmal stellt sich Anneliese Martin vor, wie es wäre, wenn ihr Mann Max noch leben würde. Sie denkt an die gemeinsamen 27 Jahre, die Höhe und Tiefen. Und den Moment, der alles verändert hat. Weihnachten 1998 nahm sich ihr Mann das Leben. „Ich war 27 Jahre mit ihm zusammen und habe ihn doch nicht gekannt“, sagt Martin. Sie klingt sachlich, ohne jeglichen Vorwurf in der Stimme. „Man muss vergeben und verzeihen“, sagt sie nur.
Drei Leute beim ersten Gespräch
Eine Weisheit, die sie auch während der Treffen ihrer Selbsthilfegruppe immer wieder mit den Teilnehmern teilt. Seit 20 Jahren tauscht sie sich einmal im Monat mit anderen Hinterbliebenen aus. Sie hört zu, gibt Ratschläge und hilft beim Trauern. „Ich habe damals nichts gefunden, wo ich mich in meiner Situation hinwenden konnte“, sagt Anneliese Martin. Ein Caritas-Mitarbeiter habe sie darin bestärkt, eine eigene Gruppe zu gründen. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für Menschen mit dem gleichen Schicksal. „Ich habe mir dann gedacht, wenn ich nur einem helfen kann, hat die Gruppe schon etwas gebracht.“ Zum ersten Termin kamen drei Leute. Einen Monat später saß sie alleine in dem großen Raum. Aufgeben kam für sie trotzdem nicht in Frage. „Über die Jahre sind es dann immer mehr geworden“, erinnert sich Martin. Ein Großteil davon seien Frauen. Hin und wieder kommt auch ein Mann vorbei. Es gibt Teilnehmer, die erst vor Kurzem einen Angehörigen verloren haben. Bei anderen liegt das Ereignis bereits mehrere Jahre zurück. Zur Selbsthilfegruppe gehen sie auch weiterhin. Zum Austausch, aber auch, um anderen zu zeigen, dass es weitergeht. Irgendwie. „Die Teilnehmer trösten sich oft gegenseitig“, sagt Martin.
Ihr selbst hätten vor 23 Jahren vor allem Familie und Freunde durch die schwere Zeit geholfen. Mutlos sei sie gewesen. Kraftlos. „Nach der Beerdigung kam für mich das große Loch“, sagt Anneliese Martin. Aber irgendwie sei sie auch da wieder rausgekommen. Einfach sei es nicht gewesen. Zumal 1998 eine Zeit gewesen sei, in der Suizid ein absolutes Tabuthema gewesen sei. „Die Leute haben zum Teil sogar die Straße gewechselt, wenn sie mich gesehen habe“, sagt die 69-Jährige. Auch das sagt sie ohne Vorwurf. Es sei halt so gewesen. Unwissend nennt sie diese Menschen heute.
Und vielleicht spricht sie auch deshalb so offen über ihren Schicksalsschlag. Um zu zeigen, dass Suizid dazugehört. So schlimm es auch sein mag. „Zuhören ist das das Wichtigste“, sagt sie. Sei es am Telefon, während der Treffen oder bei Erstgesprächen –einer Voraussetzung, um Teil der Gruppe zu werden. „Manche Teilnehmer sind noch nicht reif für unsere Selbsthilfegruppe“, sagt Anneliese Martin. Diese Menschen verweist sie dann an Psychologen, das Traumazentrum in München oder die Notfallseelsorge. Außerdem drückt sie ihnen ihre Telefonnummer in die Hand.
„Sie können jederzeit bei mir anrufen“, sagt Martin. Zum Reden, aber auch zum Zuhören. Denn manche seien so kurz nach dem Suizid eines Angehörigen noch nicht bereit über das Geschehene zu sprechen. Wer dennoch spricht, erzählt meistens von Schuldgefühlen, Einsamkeit und dem Gefühl der Hilflosigkeit. Bei Frauen kämen zudem Existenzängste hinzu.
Vom Schicksal vorgegeben
Und auch die Pandemie ist an der Gruppe nicht spurlos vorübergegangen. Die Umarmungen fehlen, das enge Beisammensein. Stattdessen gibt es Sicherheitsabstände und ein Kopfnicken aus der Entfernung. Auch die Anfragen seien mehr geworden. „Im vergangenen Jahr konnte ich gar nicht alle Menschen aufnehmen“, sagt Martin. Zeit genommen für jeden Einzelnen habe sie sich trotzdem. Es ist ihre Art, etwas an die Gesellschaft zurückzugeben. Ihr Ehrenamt, wenn man denn so will. „Mein Schicksal hat mir das vorgegeben“, sagt sie. Und jammern helfe ja auch nichts. Das habe ihr bereits ihre Oma mit auf den Weg gegeben.
Generell berichten wir nicht rund ums Thema Suizid, damit mögliche Nachahmer nicht ermutigt werden. Eine Berichterstattung findet nur dann statt, wenn die Umstände eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Wenn Sie oder eine Ihnen bekannte Person unter einer existenziellen Lebenskrise oder Depressionen leidet, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge unter der Nummer 0800/1110111. Hilfe bietet auch der Krisendienst Psychiatrie für München und Oberbayern unter Telefon 0180/6553000. Weitere Informationen finden Sie auf der Webseite www.krisendienst-psychiatrie.de.