Rosenheim – Diese Ausgabe von „Das vierte Protokoll“ ist scheinbar nicht mehr gut. „Das sieht man gleich am Einband“, sagt Jessica und legt das Buch zur Seite. Besser sieht es mit „Todesruf der Nachtigall“ aus. Das könne man noch verkaufen. Insgesamt zwölf Kisten Bücher hat sie an diesem Tag vor sich, alles Spenden für das Buchcafé am Rosenheimer Bahnhof. Dort arbeitet Jessica – und kämpft sich damit gemeinsam mit den anderen Projektteilnehmenden zurück ins Leben.
Gewöhnung an
den Arbeitsalltag
Jessica ist 25 Jahre alt und hat ein posttraumatisches Belastungssyndrom. Sie war lange häuslicher Gewalt ausgesetzt und konnte danach nicht mehr arbeiten. Ihr vollständiger Name bleibt deshalb anonym. Nach verschiedenen Therapien ist sie im Rahmen eines Coachings des Jobcenters zum Buchcafé gekommen. Sie arbeitet ein- bis zweimal die Woche hier, um sich wieder langsam an einen Arbeitsalltag zu gewöhnen. Dabei hat sie schon Fortschritte gemacht. „Inzwischen kann ich wieder anderen Menschen in die Augen schauen und freiwillig in Gespräche gehen. Vor einem Jahr hat das noch ganz anders ausgesehen.“
Bücherei und
Fahrradstation
Das Buchcafé ist ein Projekt des Sozialpsychatrischen Dienstes der Caritas und existiert inzwischen seit 20 Jahren. Das Ziel ist, Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen mit verschiedensten Hintergründen zu helfen. Im Buchcafé können die Betroffenen wieder ihre ersten Schritte in einem geregelten Arbeitsalltag machen. Sie können an der Theke Kaffee, Kuchen und Mittagessen oder auch die Bücher verkaufen, die von Privatpersonen gespendet werden. Die Bücher kosten zwischen 50 Cent und drei Euro, die Teilnehmenden sortieren sie – wie in einer Bibliothek – fachgerecht.
Daneben gibt es die Fahrradstation, wo die Teilnehmer des Buchcafés Fahrräder reparieren, verkaufen oder verleihen, aber auch das Fahrradparkhaus betreiben. Die dritte Säule bildet die Hausmeisterei. Die Teilnehmenden kommen sowohl aus dem Zuverdienst, können also schon nicht mehr voll arbeiten und erhalten eine Rente. Es gibt aber auch einige, die vom Jobcenter vermittelt werden, um wieder auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet zu werden. Pro Stunde erhalten sie zwischen 2,50 Euro und 3,50 Euro Motivationsprämie.
Andrea Rentzsch leitet das Projekt am Rosenheimer Bahnhof. „Viele der Teilnehmenden müssen erst ihr Selbstwertgefühl wieder aufbauen“, sagt sie. „Aber mit der Zeit sieht man, wie sie ein gerades Kreuz bekommen und sich mit diesem Projekt identifizieren. Sie wissen: Je mehr Leute in das Café kommen, desto länger gibt es uns und desto breitere Beschäftigungsfelder können wir anbieten.“ Das Projekt muss sich selbst finanziell tragen, der Bezirk Oberbayern unterstützt nur die Personalkosten. Während der Corona-Lockdowns sei das schwer zu stemmen gewesen. Über verschiedene Projekte, zum Beispiel indem die Teilnehmenden für Bedürftige kochten oder ein Online-Handel für die Bücher eingerichtet wurde, gelang es aber im vergangenen Jahr, wieder auf die schwarze Null zu kommen. „Wir machen eigentlich permanent neue Projekte, um uns auch der Nachfrage auf dem Markt anzupassen“, sagt Rentzsch.
Eines, an das sie sich am liebsten zurückerinnert: Kinder der Philipp-Neri-Schule malten einmal das Buchcafé und die Fahrradstation. Die Bilder stellten sie dann in einer Vernissage aus.
Die Idee zum Buchcafé entstand vor 20 Jahren, um Menschen mit psychischen Erkrankungen eine niedrigschwellige und individuelle Möglichkeit zum Arbeiten zu schaffen. Möglichkeiten zum Zuverdienst gab es kaum und wenn, dann nur mit körperlicher Arbeit – wo besonders Frauen auf der Strecke geblieben seien. Der Sozialpsychatrische Dienst in Rosenheim entwickelte daher ein Konzept für das Buchcafé. Gemeinsam mit dem Bezirk und anderen Wohlfahrtsorganisationen entstanden dann die Richtlinien für den Zuverdienst. Das Buchcafé in Rosenheim, damals noch in der Papinstraße, wurde als erstes überhaupt zu einem Begegnungsort für Inklusion. Das zeige sich im Alltag, aber auch bei den regelmäßigen Konzerten von Teilnehmenden oder Musikstudierenden. Das Buchcafé wurde zum Erfolgsmodell und Exportschlager: Inzwischen gibt es ähnliche Projekte an verschiedenen Orten in ganz Deutschland.
In Rosenheim arbeiten mehrere Arbeitsanleiter gemeinsam mit den Teilnehmenden. Derzeit ist auch Katharina Lippert dabei. Sie studiert soziale Arbeit und macht ein Praktikum im Buchcafé. „Es wird nie langweilig“, sagt sie.
An diesem Tag ist das Wetter schlecht und nur wenige Kunden kommen in das Café. Dafür eine Bücherspende: Mit zwei Sackkarren hilft Lippert, die Tüten voll mit Büchern vom Auto in das Lager zu bringen. Dort wartet schon Jessica, um sie zu sortieren und die Bücher, die nicht mehr gut sind, buchstäblich aus dem Fenster in die Mülltonne zu werfen.
Viele der Teilnehmenden wissen gar nicht, was ihnen Spaß macht, wenn sie im Buchcafé anfangen, sagt Andrea Rentzsch. „Da muss man dann teilweise in der Kindheit buddeln.“ Trotzdem sollen sie schnell eine Beschäftigung bekommen: Nach einem Erstgespräch soll es schnell losgehen. Viele tragen schwere Schicksale mit sich herum. „Da muss man lernen, sich abzugrenzen“, sagt Rentzsch. „Das ist immer eine Gratwanderung.“ Es sei wichtig, den anderen mit Respekt gegenüber zu treten und Empathie zu zeigen. „Es ist für viele schon eine große Leistung, hierher zu kommen. Das muss man wertschätzen.“
Große Pläne
für die Zukunft
Für die nächsten Jahre haben Rentzsch und ihr Team schon Pläne. Allen voran die Digitalisierung: Das Buchcafé soll ein Warenwirtschaftssystem bekommen, mit dem die Kunden schon auf der Website Bücher bestellen können. Außerdem will Rentzsch die EC-Kartenzahlung einführen. Zu großen Visionen komme sie nicht, es gehe eher von Projekt zu Projekt. „Aber ich mache diesen Job total gerne“, sagt Rentzsch. Sie arbeitet daran, dass sich die Menschen in dem Projekt entfalten können.
Bewältigung der
persönlichen Ängste
Jessica möchte, wenn sie wieder voll arbeiten kann, einmal Antiquitätenhändlerin werden. „Irgendwann will ich umgeben von altem Trödel sein.“ Die Arbeit im Buchcafé und die Therapien haben ihr geholfen, alleine durch Rosenheim zu laufen und sich den Triggerpunkten ihrer Vergangenheit dort zu stellen.
„Ich habe meinen Lebensraum erweitert.“ Sie selbst sagt, sie erkämpft sich im Buchcafé ihre Freiheit zurück.