„Wirkliche Inklusion findet nicht statt“

von Redaktion

Florian Eberl kämpft mit seinem Verein gegen Alltagsdiskriminierung von Gehörlosen

Rosenheim –Florian Eberls E-Mails lesen sich anders als die meisten E-Mails. Es sind kurze, schnelle Sätze, gerne auch mit einem Gedankensprung zwischendurch. Das liegt allerdings nicht an Florian Eberls Denke, sondern an der Sprache, wie dann im persönlichen Gespräch klar wird. Denn Eberls Muttersprache ist nicht die deutsche Laut- und Schriftsprache, sondern Gebärdensprache. Weswegen uns auch eine Dolmetscherin für Gebärdensprache unterstützt.

Die Dunkelziffer könnte höher sein

Wer meint, er hätte es schwer eine Wohnung in Rosenheim zu finden, der sollte mal mit Eberl sprechen. Zwei Jahre hat er gesucht, sagt er, und jetzt hat er aufgegeben. „Ich kann halt nicht einfach mal irgendwo anrufen“, und beim Kontakt seien Vermieter oft ablehnend, weil die Kommunikation eben schwierig sei.

Rund 80 000 Menschen in Deutschland sind gehörlos. Wie viele genau, weiß keiner. Denn Behinderungen sind nicht meldepflichtig und außerdem sind die Grenzen fließend. Das Statistische Bundesamt gibt nur 48367 taube Menschen an, aber eine viertel Million Schwerhörige. Wie viel die eigentlich hören, und ob das dann Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit ist, ist nicht klar. Der Gehörlosenbund spricht von über 50000 Menschen aus dieser Gruppe, die in einem Maß betroffen sind, „dass es an Taubheit grenzt“. Die beiden Gruppen zusammen wären schon über 100000 Menschen. Die Dunkelziffer könnte noch größer sein.

Und dennoch sei Gehörlosigkeit in der Öffentlichkeit wenig präsent, wie Eberl erklärt. „Aber das will ich ändern“, sagt er und deswegen sitzt er auch hier im Konferenzraum der OVB-Heimatzeitungen. Eberl ist seit März diesen Jahres der Vorsitzende des Hörgeschädigtenvereins Rosenheim. 60 Mitglieder haben sie, aber es werden weniger, erzählt Eberl. Wie in vielen anderen Vereinen auch, leiden sie unter Nachwuchssorgen – weniger Gehörlose gibt es nicht. Drei, eigentlich vier verschiedene Kategorien von Mitgliedern hat der Verein: Gehörlose, Schwerhörige und sogenannte CI-Träger. Das sind Hörgeschädigte mit einem Cochlea Implantat, das vielen helfen kann. Die vierte Kategorie sind die drei Hörenden, die sich engagieren.

Das ist selten. Denn die Behinderung ist quasi unsichtbar. Theoretisch müsste fast jeder Mensch einen Gehörlosen kennen – das sagt die Statistik, aber dadurch, dass sich Gehörlose nicht auf der Straße erkennen lassen, weil sie etwa im Rollstuhl sitzen oder einen Stock haben, laufen sie unter dem Radar. „Die Gesellschaft nimmt das zu wenig wahr“, sagt Eberl: „Jeder ist immer in seiner Welt, eine wirkliche Inklusion passiert nicht.“

Auch weil klassische Gehörlosen-Berufe ohne Kontakt auskommen. Früher, erzählt Eberl, habe es nur drei Berufe für Gehörlose gegeben: Schneider, Buchbinder, Drucker. Das habe sich zwar gebessert, sei aber immer noch weit entfernt von Barrierefreiheit: „Man kann schon überall studieren, aber nur mit einem Antrag.“ Diesen braucht es für einen Dolmetscher. Schließlich ist die deutsche Laut- und Schriftsprache nicht das gleiche wie die deutsche Gebärdensprache. In Letzterer steht zum Beispiel das Verb erst am Schluss eines Satzes, Zeitangabe und Subjekt stehen am Anfang. Für viele, ergänzt Dolmetscherin Anita Graetz, sei es eine Fremdsprache. Außerdem könne man nicht alles von den Lippen ablesen. Das sei eine Möglichkeit für einfachere Botschaften, aber nicht für komplexe Sachverhalte. „Man braucht die ganze Zeit eine Dolmetscherin“, sagt Eberl, und die kostet Geld. Das übernimmt zwar das Amt für Inklusion, aber zum einen dauere das Bearbeiten des Antrags – gerne mal ein halbes Jahr – und zum anderen sind die Anträge ohne Hilfe nicht auszufüllen. Die sind ja auch nicht in Gebärdensprache sondern im tiefsten Amtsdeutsch.

Langsam, deutlich
und mit Geduld

Doch nicht nur in der Ausbildung ist das ein Problem. Eberl, der vor seiner aktuellen Anstellung in einem Baumarkt arbeitete, erzählt von Problemen bei kurzfristigen Teammeetings und von den Schwierigkeiten im Kundenkontakt. Es ist nicht so, dass man als Mensch, der keine Gebärdensprache beherrscht, nicht mit Eberl kommunzieren kann.

Aber, das sagt er selbst, man braucht Geduld: Das fängt damit an, dass man Eberl nicht einfach herbeirufen kann. Es braucht Augenkontakt, man sollte langsam und deutlich sprechen, am besten ohne Dialekt. Eberl antwortet dann mit Hand und Fuß. Das alles braucht eben Geduld. „Und im Zweifel halt Stift und Papier“, sagt Eberl. Eigentlich nicht viel verlangt, aber im Alltag für viele offenbar zu viel.

Aber nicht nur Kunden müssen mitspielen, sondern auch der Arbeitgeber. Ein normaler Feuermelder reicht nicht, es muss schon ein Lichtsignal geben. Diese Melder zahlt auch das Amt für Inklusion – nach einem halben Jahr, so lange muss der Arbeitgeber die Kosten auslegen. Das macht nicht jeder, wie Eberl weiß. Der Baumarkt jedenfalls sei dazu nicht bereit gewesen.

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