Rosenheim/Charkow – Von Alexandr Dmitrishins Wohnung im dritten Stock bis zu dem Bunker im Keller sind es 44 Stufen. Zu viel für den 70-Jährigen, der im Rollstuhl sitzt, und dessen Frau, die ebenfalls an einer körperlichen Beeinträchtigung leidet. „Das schaffen wir nicht“, sagt er im Videogespräch, zu dem der Rosenheimer Jonah Werner, Pressesprecher des Vereins „Athletes for Ukraine“, eingeladen hatte. „Es ist uns wichtig, dass wir weiterhin über die Situation vor Ort berichten“, sagt Werner.
Seine Stimme
ist leise
Dmitrishin sitzt an seinem Schreibtisch. Hinter ihm ist eine Schrankwand zu erkennen. Seine Stimme ist leise. Hin und wieder muss er eine Pause machen. Der 70-Jährige arbeitet als schriftlicher Übersetzer und lebt bereits seit vielen Jahren in Charkiw. Doch seit dem 25. Februar ist alles anders. „Heute ist der 198. Tag des großen Krieges zwischen der Ukraine und Russland“, sagt er. Er erzählt von Luftangriffen, von einschlagenden Raketen und Explosionen. „In den vergangenen 198 Tagen gab es nicht eine Woche, in der es diese Dinge nicht gegeben hat“, sagt Dmitrishin. Stille. Kurz scheint es, als ob die Verbindung unterbrochen wurde, dann spricht der 70-Jährige weiter.
„Erst am 18. August ist eine Rakete in ein Wohnheim für gehörbehinderte Menschen eingeschlagen.“ Das dreistöckige Gebäude mit den dicken Ziegelwänden sei nur 500 Meter von seinem Haus entfernt gewesen. 19 Menschen seien ums Leben gekommen. „In diesem Haus gab es weder Waffen noch Soldaten. Trotzdem wurde es zerstört“, sagt Dmitrishin. Seine Stimme zittert. Er atmet durch. Es fällt ihm sichtlich schwer, nicht die Fassung zu verlieren.
„Jeden Tag fühle ich mich wie eine Zielscheibe in einer Schießbude“, sagt er. Kurz überlegt er. „Oder wie ein Todeskandidat.“ Doch aus der Ukraine zu flüchten, wie es Tausende seiner Landsleute getan haben, kommt für den 70-Jährigen nicht infrage.
Er und seine Frau hätten darüber nachgedacht, mit Verwandten gesprochen und sich am Ende für das Bleiben entschieden. „Wir sind zur Flucht nicht bereit“, sagt Dmitrishin. Stattdessen hofft er auf ein Ende des Krieges, darauf, dass die Ukraine den Kampf gegen Putin und seine Armee gewinnt. „Ein Waffenstillstand reicht uns nicht, weil es bedeutet, dass sich das Ganze in geraumer Zeit wiederholen kann“, sagt er.
Doch wann beziehungsweise ob ein Sieg der Ukraine in naher Zukunft eintreten wird, weiß im Moment niemand. Bis es so weit ist, wollen Alexandr Dmitrishin und seine Frau in der Wohnung in Charkiw bleiben. Die Supermärkte hätten zwar geöffnet, trotzdem würden sie sich einen Großteil der Lebensmittel liefern lassen. Zu groß ist die Angst vor einem Luftangriff.
„Erst heute habe ich mehrere Male die Sirenen des Luftwarnsystems gehört“, sagt er. Es sei ein schriller Ton, der ihn ihm Angst und Bange auslöse – gepaart mit dem Gefühl der Erleichterung. „Schlimmer wäre die Sirene, die uns über einen chemischen oder radioaktiven Angriff in Kenntnis setzt“, sagt Dmitrishin.
Es ist eine Sorge, die durchaus begründet zu sein scheint. Denn die Lage in dem städtischen Atomkraftwerk ist laut dem 70-Jährigen alles andere als gut. „Die Situation kann jederzeit ein schlechtes Ende nehmen.“ Und doch sei er nicht hoffnungslos. Das macht er während des Gesprächs mehrfach deutlich. Er sei dankbar für die Unterstützung Deutschlands, spüre die Solidarität – auch mit Blick auf den Verein „Athletes for Ukraine“.
Wie berichtet, hat der frühere Biathlon-Olympiasieger Jens Steinigen, zusammen mit weiterer Sportprominenz, den Verein im März 2022 als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegründet. Mittlerweile hat der Verein mehrere hundert Mitglieder, die Spenden sammeln, Aufklärungsarbeit leisten und selbst an die ukrainische Grenze fahren. Auf einer dieser Fahrten – an denen auch der Rosenheimer Jonah Werner immer wieder teilgenommen hat – ist auch der Kontakt zu Alexandr Dmitrishin entstanden.
„Eines Tages kamen Mitglieder des Vereins nach Charkiw, die uns Hilfsgüter vorbeigebracht haben und mir angeboten haben, ein paar Worte in die Kamera zu sagen“, erinnert sich Dmitrishin. Seither sei der Kontakt niemals abgebrochen. Im Gegenteil. Mehrmals im Monat telefoniert der 70-Jährige mit Jens Steinigen und Jonah Werner. Sie tauschen sich über die Situation in der Ukraine aus, fragen, welche Hilfsgüter benötigt werden.
Wunsch nach noch
mehr Unterstützung
„Die Unterstützung hilft den Menschen in der Ukraine sehr. Ich glaube nicht, dass wir den Krieg gegen Russland alleine bestehen würden“, sagt er. Und doch würde er sich noch mehr Unterstützung vonseiten der deutschen Regierung wünschen. „Wir brauchen noch mehr Waffen für die Abwehr der Raketen“, sagt der 70-Jährige. Nur so könne ein Sieg gegen Russland gelingen – und eine Rückkehr in die Normalität. Oder vielmehr in das, was von ihr übrig geblieben ist.